Versetzen wir uns in die 1970er-Jahre und in eine Stadt, in der bereits damals viel los war: Tokio. Heute leben im Ballungsraum der größten Stadt der Welt rund 37 Millionen Menschen. Täglich pendeln 40 Millionen Menschen im öffentlichen Nahverkehr. Im übertragenen Sinne wäre somit fast unsere halbe Republik in Bewegung – an einem Tag. Kaum vorstellbar! Der Anthropologie Michael Fisch vergleicht die eng getakteten Verkehrsträger der 1970er-Jahre mit einem Organismus: zentral steuerbar, wie Nervenbahnen.
Das war die Vorstellung einer geordneten Zukunft. Allerdings waren diese Systeme anfällig für infrastrukturelle Störungen, die, einmal an einem Ort aufgetreten, das gesamte System beeinträchtigten. Heute werden die mittlerweile privatisierten Tokioter Verkehrsunternehmen mit dem Autonomous Decentralized Transport Operation Control System gesteuert.
Die Idee geht zurück auf den Informatiker Kinji Mori: Er ging von „einer heterogenen techno-sozialen Umwelt aus, die […] auf Störungen reagiert wie ein sich fortlaufend veränderndes Ökosystem“. Beispielsweise gibt es „keine festen Fahrplanzeiten, aber eine verlässliche Taktung“. Moris Idee: Verkehrsträger agieren nicht in Silos nebeneinander, sondern maximal vernetzt. Könnten daraus die Leitlinien für die Mobilität der Zukunft entwickelt werden?
Keine unzähligen Apps mehr nötig
Blick in die Zukunft: Ich sitze am Frühstückstisch und schaue auf den Kalender. Ich habe am Vormittag Termine an unterschiedlichen Orten. Am Nachmittag trete ich von einer anderen Stadt aus eine Fernreise an. Gebucht habe ich bisher nichts. Ein Eintrag in den Kalender genügt: Das System analysiert die Wege zwischen den Verabredungen. Ich weiß, dass ich mich auf meine digitale Karte verlassen kann. Sie kennt meine Reise-Gewohnheiten und -Präferenzen, weiß, welche die jeweils schnellsten Verbindungen sind und berücksichtigt dabei die umweltfreundlichsten Verkehrsmittel. Ich muss nur meine Zielorte und die gewünschten Ankunftszeiten angeben.
Alles andere erfolgt im Hintergrund, ich bekomme einen Endpreis genannt. Wie diverse Anbieter ihre Nutzungsentgelte untereinander berechnen, muss mich nicht interessieren. Ich brauche keine unzähligen Apps mit jeweiligen Registrierungen, mein biometrisches Profil, das mir die Nutzung aller Verkehrsmittel ermöglicht, ist hinterlegt. Abgerechnet wird nach tatsächlicher Nutzung. Ich starte also entspannt in den Tag. Denn sich von A nach B zu bewegen, zu reisen, ist in den vergangenen Jahren einfach geworden. Eine nahtlose Mobilität ist Wirklichkeit.
Heutige Verkehrssysteme verkraften keine Nachfragesprünge
Zurück in der Gegenwart: Unser Mobilitätsbedürfnis steigt. Sowohl die Alltagsmobilität als auch unsere Reiselust. Im Jahr 2019 waren so viele Deutsche wie noch nie im Urlaub. Unsere heutigen Verkehrssysteme sind nicht auf sprunghaft ansteigende Nachfrageentwicklung ausgelegt. Die Schwierigkeit im Aufbau und im Betrieb einer Mobilitätsinfrastruktur liegt darin, dass hohe Vorabinvestitionen notwendig werden. Schienen und Straßen müssen gebaut, Landebahnen betoniert und, wie wir jüngst schmerzhaft erleben mussten, Wasserstraßen ausgebaggert werden.
Mobilität ist ein wichtiger Faktor für unseren Wohlstand und gleichzeitig Ausdruck desselben. Der Bedarf wird weiter zunehmen. Ein Blick auf die Deutschlandkarte genügt, um festzustellen, dass es nicht ohne Weiteres möglich sein wird, „mehr Infrastruktur“ zu erschaffen. Nutzbare Flächen sind rar, der lokale Widerstand oftmals vehement, Planfeststellungsverfahren ziehen sich. Mobilität und die zugehörige Infrastruktur sind teuer, pflegeintensiv, investitionsgesteuert und zahlen nicht per se auf das gesamtgesellschaftliche Ziel der Klimaneutralität ein.
Was müssen wir heute dafür tun, dass die nahtlose Mobilitätszukunft zur Realität werden kann? Investitionen in den Bestand? Verzicht? Preiserhöhungen? Sicherlich sind das Teilbeiträge zur Lösung. Aber ist das unsere Version einer Mobilität der Zukunft, die unserem Bedarf gerecht wird?
Nein. Damit das nahtlose Reisen in 20 Jahren keine Utopie bleibt, brauchen wir mehr „Mobilitätswirksamkeit“:
1. Weniger fragmentierte Dienstleistungsverantwortlichkeiten.
2. Prozessorientierte, intermodale Nutzung von Daten über Unternehmensgrenzen und Verkehrsträger hinweg.
3. Entlastung der Peaks über eine preisgesteuerte Flexibilisierung des Nutzerverhaltens.
4. Mutigeres Handeln bei der Verwendung digitaler Technologien wie Biometrie.
Intermodalität der Verkehrsträger ist Voraussetzung
Im Jahr 2040 werden 9,2 Milliarden Menschen auf der Erde leben. Das sind 1,4 Milliarden mehr potenzielle Reisende als heute. Um deren Mobilitätsbedarf zu bewältigen, werden Subsysteme agil auf Friktionen reagieren müssen. Anders als früher können wir nicht nur schneller und reibungsloser Alternativen bewerten und unsere Reisepläne justieren, sondern die künstliche Intelligenz kalkuliert belastbare Prognosen, wann mit einer Besserung zu rechnen ist.
Wir werden neue Formen der Mobilität nutzen: elektrische Flugtaxis, weitestgehend selbstfahrende Autos und Hochgeschwindigkeits-Hyperloops. Eine Vielzahl unterschiedlicher Mobilitätsträger wird nebeneinander bestehen. Anders als früher werden sie jedoch ein miteinander vernetztes Verkehrsökosystem bilden. Damit unser aller Bedürfnis nach Mobilitätsfreiheit selbstbestimmt, bezahlbar, unkompliziert und gleichzeitig nachhaltig erfüllbar bleibt.
Heute diskutiert Lars Mosdorf beim Future Mobility Summit das Thema „Luftverkehr: zwischen Wachstumschancen, Klimaschutz und Pandemiefolgen?“ mit Tine Haas, Director Airports & Aviation der Dornier Group und BER-Chefin Aletta von Massenbach.