Hunderttausende neue Wohnungen pro Jahr, 15 Millionen Elektroautos bis 2030, Dutzende neuer Gaskraftwerke, eine klimaneutrale Volkswirtschaft bis 2045/2050: Ständig neue, exakt quantifizierte politische Ziele liegen im Trend. In Europa ebenso wie in Deutschland. Solche Erfolgsversprechen sollen Ambition und Ehrgeiz demonstrieren. Doch sie fallen den Regierenden häufig auf die Füße.
Jeder, der wandert, weiß: Um den Gipfel zu erreichen, braucht es eine realistische Vorstellung vom Weg, Meilensteine und das passende Rüstzeug. An all dem fehlt es bei der politischen Zielerreichung leider oft. Die Lücke zwischen dem Anspruch einerseits und einer ehrlichen Folgen- und Chancenabschätzung andererseits ist mitunter groß. Klaffen Wunsch und Wirklichkeit auseinander, macht das Politik unglaubwürdig und schadet der Wirtschaft.
Bestes Anschauungsmaterial für Gesetzgebung, die Realitäten ignoriert, bietet die Luftverkehrspolitik in Deutschland und Europa. Im „Green Deal“ der Europäischen Union wurden umfassende Maßnahmen beschlossen, die den Sektor unter vermeintlicher Wahrung (!) der Wettbewerbsfähigkeit dekarbonisieren sollen. Mittlerweile allerdings zeigt sich: Hier war der Wunsch Vater der Gedanken.
Denn die beschlossenen Klimaschutzmaßnahmen schwächen EU-Fluggesellschaften und EU-Drehkreuze im internationalen Wettbewerb. Das hat vor allem zwei Gründe: Erstens fehlt eine kraftvolle Industriepolitik, die die teuren Klimaschutzvorhaben flankiert. Zweitens wird der Wettbewerb empfindlich verzerrt.
Alternative Kraftstoffe: Großer Bedarf, kleines Angebot
Bestes Beispiel ist die Quote für nachhaltige Flugkraftstoffe, die sogenannten Sustainable Aviation Fuels, kurz SAF. Ab Januar 2025 muss das an EU-Flughäfen getankte Kerosin zwei Prozent SAF enthalten. Bis 2050 soll dieser Anteil auf 70 Prozent steigen. Doch es gibt ein erhebliches Angebots- und Preisproblem: Biogenes SAF, das aus Reststoffen, etwa gebrauchten Speiseölen, hergestellt wird, ist zwar in kleinen Mengen verfügbar, aber aktuell drei bis fünf Mal teurer als fossiles Kerosin. Aufgrund des geringen Angebots bleiben die Preise absehbar hoch. 2023 gab es weltweit 500.000 Tonnen biogenes SAF. Das ist extrem wenig. Allein die Airlines der Lufthansa Group könnten damit nur vier Wochen fliegen. Der Treibstoffbedarf des globalen Luftverkehrs liegt bei 280 Millionen Tonnen – Tendenz steigend.
Noch problematischer ist die Lage bei strombasierten Kraftstoffen (Power-to-Liquid, PtL). Ab 2030 müssen nach EU-Vorgabe 1,2 Prozent PtL beigemischt werden, bis 2050 sollen es 35 Prozent sein. Allerdings gibt es in ganz Europa bisher keine PtL-Fabrik. Bereits begonnene Projekte werden sogar auf Eis gelegt. Europa ist weit entfernt davon, starker PtL-Standort zu werden.
Selbst die aktuell in der EU geplanten drei Produktionsstätten würden mit einer Gesamtkapazität von 100.000 Tonnen nicht einmal den deutschen Bedarf im Jahr 2030 decken. Umso wichtiger wird eine gezielte EU-Importstrategie für PtL. Bisher stoßen potenzielle Lieferländer auf hohe regulatorische Hürden.
Regierung sollte nationale PtL-Quote streichen
Deutschland setzt noch einen drauf: An hiesigen Flughäfen soll bereits ab 2026 0,5 Prozent PtL beigemischt werden. Längst ist klar: Diese Quote wird aufgrund mangelnder Verfügbarkeit nicht erfüllbar sein. Hohe Kosten, rechtliche Unsicherheiten und bürokratischen Auflagen schrecken potenzielle Investoren ab. So scheiterte der Versuch des Bundeswirtschaftsministeriums, über eine von der Stiftung „H2Global“ durchgeführte Ausschreibung subventionierte Lieferverträge mit Produzenten abzuschließen. Es fand sich kein Bieter (Tagesspiegel Background berichtete).
Das zeigt: Die Bundesregierung muss ihre nationale Sonderlösung rasch zu den Akten legen. Sonst zahlen am Ende Airlines und ihre Kunden absurde Strafen dafür, dass sie einen Kraftstoff nicht nutzen, den es gar nicht gibt.
Die zuständigen politischen Akteure in Deutschland und Europa geben bisher keine überzeugenden Innovations- und Investitionsimpulse. Die Ampel-Regierung hatte angekündigt, die Einnahmen aus der Luftverkehrsteuer in die SAF-Förderung zu investieren. Passiert ist das Gegenteil. Die Bundesregierung hat die Förderung von PtL-Produktionsanlagen von gut zwei Milliarden Euro auf 17 Millionen Euro reduziert und damit praktisch abgeschafft – allerdings die Luftverkehrsteuer signifikant erhöht.
Klimaschutzabgabe oder Carbon Border Adjustment Tax
Wenn der „Green Deal“ noch zum Erfolg werden soll, braucht es dringend mehr Realitätssinn und Augenmaß. Der von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angekündigte „Clean Industrial Deal“ weckt zumindest die Hoffnung, dass Klimaschutz und Wirtschaftswachstum künftig Hand in Hand gehen. Für den Luftverkehr bedeutet das, ideologiefreie Wege zu finden, die effektiven Klimaschutz ermöglichen und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Airlines sichern.
Dafür ist die Korrektur der SAF-Quote entscheidend. Denn wenn Langstrecken über Drehkreuze etwa in der Türkei oder in Dubai der Quote nicht unterliegen und somit günstiger sind, führt das zu Verkehrs- und Emissionsverlagerungen vor die Tore der EU („Carbon Leakage“) – ohne Nutzen für die Umwelt, aber zu Lasten europäischer Wertschöpfung, Arbeitsplätze und Konnektivität.
Der geplante Review-Prozess zur Überprüfung von Wettbewerbsverzerrungen wird ein Lackmustest sein, ob und wie die neue EU-Kommission ihre angekündigte Neuausrichtung in die Tat umsetzt. Eine faire Lösung zur Finanzierung der SAF-Quote wäre eine europäische Klimaschutzabgabe für alle Fluggesellschaften, die abhängig vom Reiseziel, aber unabhängig davon, wo die Passagiere umsteigen, erhoben wird. Eine andere Möglichkeit, ein Level-Playing-Field zu sichern, wäre die Einführung einer Carbon Border Adjustment Tax für die Airlines, die sich der EU-Quote entziehen.
Für eine erfolgreiche Klima- und Wirtschaftspolitik reichen starre Zielmarken nicht aus. Entscheidungsträger und Regulatoren müssen auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass politisch gesetzte Vorgaben erreichbar sind. Sonst verliert jede Ambition, mag sie in der Sache noch so richtig sein, ihre Legitimation. Hier braucht es in der politischen Kultur mehr Realitätssinn.