In Deutschland wird der Stand der Technik im Straßenverkehr durch die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrstechnik (FGSV) definiert. Die Forschungsgesellschaft ist ein Verein, und die Regelwerke werden ehrenamtlich erarbeitet. Dies hat den Nachteil einer langen Bearbeitungsdauer, aber auch den Vorteil, dass neben Forschungsergebnissen ein großer Erfahrungsschatz von Praktikern in die Regelwerke mit einfließt. Stand vor 100 Jahren bei Gründung der FGSV die Anpassung der Straßen an die zunehmende Motorisierung im Mittelpunkt der Aktivitäten, sind die Anforderungen heute vielfältig.
Regelwerke gibt es für den Fußverkehr, den Radverkehr, die Barrierefreiheit, den ÖPNV, das Fahrradparken, Kfz-Parken, zu Fragen des Klimaschutzes und zu vielem mehr. Das stellt natürlich hohe Anforderungen. Die Ansprüche der einzelnen Verkehrsteilnehmer an den Verkehrsraum werden im Rahmen der Erarbeitung den neuen Richtlinien zur Anlage von Stadtstraßen (RASt) zusammengetragen. Dieses R1-Regelwerk bündelt den Stand der Technik und hat die höchste Verbindlichkeit.
Die Regelwerkserstellung erfordert einen hohen Koordinations- und Abstimmungsaufwand. Am Ende soll alles untereinander widerspruchsfrei sein. Wenn man die Vielfalt der Anforderungen bedenkt, ist dies kaum möglich, insbesondere wenn jeder für sich arbeitet und anschließend ein klassischer Abstimmungsprozess in Form von Stellungnahmen und Gegenstellungnahmen erfolgt. Wobei dann jeder seinen Belang verteidigt und naturgemäß soviel wie möglich für seine Verkehrsart herauszuholen versucht.
Strategie der 80er Jahre nicht wiederholen
Hier kommt ein Narrativ zum Tragen, das man immer über die fachliche Diskussion hinaus wahrnehmen kann. „Wir haben nicht genug Platz, um den Anforderungen aller Verkehrsteilnehmer gerecht zu werden. Unsere Straßenräume sind nun mal begrenzt.“ Was heißt das aber jetzt? Auf keinen Fall sollte die Strategie der 80er Jahre wieder zur Anwendung kommen. Damals unterschritt man einfach die Maße, womit schwierige und unzureichende Straßenräume geschaffen wurden, bei denen die Verkehrssicherheit auf der Strecke blieb. Die Alternative ist, Flächen durch unterschiedliche Funktionen gemeinsam zu nutzen.
Ist der Querschnitt nicht breit genug, die zu berücksichtigenden Funktionen verträglich untereinander abzuwickeln, können beispielsweise Geschwindigkeiten herabgesetzt werden, um die Verträglichkeit herzustellen. Für den ÖV und den Radverkehr sind dies beispielsweise ÖPNV-Sonderfahrstreifen mit Freigabe für den Radverkehr. Eine weitere Möglichkeit der effektiven Flächennutzung ist die Anlage eines Multifunktionsstreifens. Dieser kann je nach Anforderung die Funktionen von Haltestellen, Parkständen für Kfz oder Fahrräder, Außengastronomie, Grünflächen, Baum-Standorten oder Laden/Liefern aufnehmen. Zudem ist es möglich, die Funktionen innerhalb des Multifunktionsstreifens bei sich ändernden Anforderungen neu zu verteilen, ohne den Straßenquerschnitt zu verändern.
Wichtig ist, dabei über die Belange des eigenen Verkehrsmittels hinaus zu denken. Beispielhaft soll hier die Zusammenarbeit zu den Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) und zum Öffentlichen Verkehr (EAÖ) sein. Besonders im Fokus stehen hierbei die Haltestellen, in denen der ÖV durch haltende Fahrzeuge und Fahrgastwechsel im Gegensatz zum Verkehrsfluss des Radverkehrs steht.
Wie wird der Radverkehr an Haltestellen geführt?
Am Anfang der Auswahl einer geeigneten Haltestellenform steht die Entscheidung, den Radverkehr auf der Fahrbahn oder im Seitenraum zu führen. Die Führung auf der Fahrbahn setzt entsprechend mäßige Kfz-Verkehrsstärken und Geschwindigkeiten voraus, die in der ERA definiert sind. Ist der Seitenraum kleiner als drei Meter, besteht ebenfalls keine andere Möglichkeit, als den Radverkehr über der Fahrbahn zu führen. Diese und die folgenden Maße sind sowohl in der ERA als auch in den Empfehlungen für Fußverkehrsanlagen definiert. Bei Seitenraumbreiten zwischen drei und 4,60 Metern muss der Radverkehr über den Wartebereich der Haltestelle geführt werden. Auch dies ist nur sinnvoll, wenn Fahrgastaufkommen und Radverkehr eher gering sind.
Ab 4,60 Meter ist es möglich, den Radverkehr zwischen Fahrbahn und Wartefläche zu führen, während eine Führung zwischen Wartefläche und Gehweg erst ab 6,40 Meter möglich wird. Bei diesen breiteren Seitenräumen besteht nun die Möglichkeit, zwischen den genannten Optionen zu wählen. Wie die positiven Erfahrungen mit überfahrbaren Haltestellenkaps bei Straßenbahnhaltestellen zeigen, kommt bei zunehmendem Fußverkehrs- und Fahrgastaufkommen eher die Führung des Radverkehrs zwischen Fahrbahn und Wartefläche in Betracht.
Soweit der aktuelle Stand der Diskussion. Aktuell werden die erarbeiteten Vorzugslösungen für Haltestellen unter Einbeziehung der Experten für den Fußverkehr und die Barrierefreiheit abschließend bearbeitet und eine entsprechende Entscheidungshilfe bereitgestellt.
Fixierung auf Verkehrsarten nicht mehr zeitgemäß
Vor dem Hintergrund der positiven Ergebnisse dieser interdisziplinären Herangehensweise sollte bedacht werden, ob die Fixierung auf die Verkehrsarten bei der Überarbeitung der Regelwerke noch zeitgemäß ist. Ein Vorschlag für die künftige Gremienarbeit wäre daher, gremienübergreifende Expertenteams zu bilden, die gemeinsam funktionierende Lösungen erarbeiten.
So würde sich beispielsweise ein Expertenteam für Haltestellen aus Mitarbeitern der EFA (Fußverkehr), der ERA (Radverkehr), der EAÖ (Öffentlicher Verkehr) und der HBVA (Barrierefreiheit) zusammensetzen. Statt gesamte Regelwerke neu zu fassen, würden bei Bedarf immer nur die arbeitsausschussübergreifenden Themen bearbeitet. Dies würde die langen Erarbeitungszeiträume für Regelwerke verringern und es ermöglichen, den Anwendern zudem kurzfristig konsistentere und aktuellere Regeln verkehrsmittelübergreifend zur Verfügung zu stellen.