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Standpunkte Warum die Verkehrswende Leitplanken braucht

Jörg Reimann
Jörg Reimann, Geschäftsführer vom Ladeanbieter Digital Charging Solutions (DCS) Foto: Promo

Die neue Bundesregierung hat steuerliche Anreize für die Elektromobilität geschaffen – doch verbindliche Zielvorgaben oder klare ordnungspolitische Leitplanken fehlen bislang. Ohne Koordinaten bleibt unklar, wohin die Verkehrswende steuert. Ein Zwischenruf aus Sicht der Praxis.

von Jörg Reimann

veröffentlicht am 16.06.2025

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Die abrupte Einstellung des „Umweltbonus“ Ende 2023 hinterließ einen spürbaren Dämpfer im privaten E-Automarkt. Die Quittung: Ein signifikanter Rückgang der Neuzulassungen im Jahr 2024. Die neue Bundesregierung hat darauf reagiert und eine großzügige Steueroffensive gestartet: 75 Prozent Sofortabschreibung für rein elektrische Fahrzeuge, eine auf 100.000 Euro erhöhte Dienstwagenbegünstigung und verlängerte Kfz-Steuerbefreiungen bis 2035. Diese Hebel schaffen Liquidität – keine Frage. Und da Unternehmen und Flottenbetreiber Multiplikatoren der Elektromobilität sind, werden diese Anreize ihre Wirkung nicht verfehlen und zu mehr Elektrofahrzeugen auf deutschen Straßen führen.

Was diesen Maßnahmen aber fehlt, ist der Horizont. Weder im Masterplan zur Ladeinfrastruktur noch im Verkehrskapitel des Koalitionsvertrags tauchen verbindliche Mengen- oder Zeitziele für vollelektrische Pkw auf. Die Ampel-Regierung veranschlagte rund 15 Millionen batterieelektrische Autos („Battery Electric Vehicle“, BEV) bis 2030, um die Sektorziele des Klimaschutzgesetzes einzuhalten. Ohne solch eine Ziellinie verwandeln sich selbst wohlmeinende Steuerboni in einen Blindflug: Investoren, Flottenbetreiber und Energieversorger wissen nicht, ob sie marathontauglich rennen oder Kurzsprints einlegen sollen.

Technologieoffen, aber unentschlossen

Insbesondere die CDU betont, dass sie beim Thema Auto auf „Technologieoffenheit“ setzt. Dazu gehört, dass für Plug-in-Hybride erneut Fördergelder in Aussicht gestellt werden. Begründung: Insbesondere im ländlichen Raum gebe es immer noch viel zu wenig Lademöglichkeiten. Das klingt nach Pragmatismus, wirkt in der Praxis jedoch wie ein Spurwechsel ohne Blinker. Denn wenn Reichweitenverlängerer wieder gepäppelt werden, bremst das den Hochlauf reiner Stromer aus – genau jener Fahrzeuge, für die das Ladeinfrastrukturnetz eigentlich dimensioniert wird. Bereits heute müssten täglich rund 6700 neue BEV zugelassen werden, um das 15-Millionen-Ziel zu erreichen; tatsächlich sind es nicht einmal 1400. Mit anderen Worten: Ein offener Fächer an Antrieben mag investorenfreundlich wirken, verwässert aber die notwendige Fokussierung.

Ladeinfrastruktur: Ein Ausbaugigant im Leerlauf

Dabei hat Deutschland beim Ausbau der Ladeinfrastruktur bereits wahre Mammutleistungen vollbracht. Mit über 160.000 öffentlichen Ladepunkten und 8,5 GW installierter Leistung per Januar 2025 sind wir auf einem guten Weg, das Ziel von einer Million Ladepunkten bis 2030 zu erreichen. Insbesondere die Schnellladeinfrastruktur wächst rasant. Zugleich liegt die durchschnittliche gleichzeitige Auslastung der Ladepunkte bei lediglich 17 Prozent. Der Ausbau der Ladeinfrastruktur läuft dem Hochlauf der Elektrofahrzeuge voraus. Die Herausforderung liegt nicht mehr primär im Fehlen von Ladepunkten, sondern im Fehlen von genügend E-Autos auf der Straße, die diese Punkte auch nutzen. Betreiber kalkulieren daher vorsichtig und verschieben Projekte; ein klassisches Henne-Ei-Dilemma.

Ein weiteres Ärgernis für viele Verbraucher: Welche Preise sie einer Ladesäule erwarten, gleicht einer Lotterie. Bei manchen Anbietern zahlen Vertragskunden bis zu 10 ct/kWh weniger als Ad-hoc-Lader, an Autobahnen beträgt das Gefälle bis zu 28 Prozent. Die europäische AFIR-Verordnung – die das Ziel hat, eine flächendeckende und einheitliche Infrastruktur für alternative Kraftstoffe zu fördern – verlangt Diskriminierungsfreiheit, doch Deutschland besitzt keine wirksamen Sanktionsinstrumente. Ohne Marktaufsicht droht ein Zwei-Klassen-System, in dem spontane Mobilität zum Luxus wird.

Plug and Charge muss zum Standard werden

In einer digitalisierten Gesellschaft erwarten Kundinnen und Kunden einfache, reibungslose Prozesse – das gilt erst recht für digital gesteuerte Vorgänge wie das Laden von Elektrofahrzeugen. „Plug & Charge“ nach dem internationalen Standard ISO 15118-20 verspricht genau das: Fahrzeug einstecken, Strom fließt, die Abrechnung erfolgt automatisiert im Hintergrund. Im Koalitionsvertrag wird Nutzerfreundlichkeit zwar betont, aber eine Frist sucht man vergeblich. Bis spätestens Ende 2025 sollte Rechtssicherheit für die Einführung von Plug & Charge geschaffen werden – sonst bleibt die Ladesäule ein App-Basar. Solange digitale Schnittstellen auf regionale Pilotprojekte beschränkt sind, verschenkt Deutschland ein Komfortmerkmal, das das Elektro-Erlebnis massentauglich machen könnte.

Der Bau eines Ladeparks führt heute durch rund 850 Verfahrenswege – Bauanzeige, Netzanschluss, Brandschutz, Förderung. Im Schnitt vergehen 18 Monate von Antrag bis Inbetriebnahme. Ein bundesweit einheitliches One-Stop-Portal mit Maximalfrist sechs Monate und dem Prinzip „Genehmigung durch Fristablauf“ würde den Ausbau deutlich beschleunigen. Wer Windräder per Gesetz beschleunigen kann, schafft das auch für Schnelllader.

Vier Gänge, die die Verkehrswende voranbringen

Die Bundesregierung hat einen pragmatischen Kurs eingeschlagen, der industriepolitische Interessen mit Klimazielen zu vereinen versucht. Aber das ist nur ein Etappenerfolg, kein Paradigmenwechsel. Um das volle Potenzial der E-Mobilität zu entfesseln, braucht es jetzt einen beherzteren politischen Impuls. Vier Hebel lassen sich sofort umlegen:

1. Zielgerade definieren. Ohne klar definiertes Ziel bleibt jede Steuererleichterung Symbolpolitik. Ein verbindliches Zwischenziel von 15 Millionen vollelektrischen Pkw bis 2030 würde Orientierung schaffen und Planbarkeit für Wirtschaft, Kommunen und Verbraucher bieten. Dazu gehören auch jährliche Zwischenmarken und ein Monitoring der Zielerreichung.

2. AFIR-Umsetzung schärfen. Die europäische Verordnung muss auch national mit Leben gefüllt werden. Das heißt: Ein Preisvergleichstool, ein öffentlicher Preisindex sowie eine zentrale Aufsichtsstelle, die Verstöße gegen Preisdiskriminierung sanktioniert. Ladepreise dürfen nicht vom Nutzungsmodell abhängen, sondern müssen fair, transparent und diskriminierungsfrei sein.

3. Plug & Charge verordnen. Die Technik ist vorhanden, die Standards definiert – jetzt braucht es politischen Willen. Eine verpflichtende Einführung bis Ende 2025 würde Hersteller, Betreiber und Softwareanbieter endlich zu einem gemeinsamen Fahrplan zwingen. So kann der Flickenteppich aus Apps, Karten und Registrierungen beendet werden.

4. Genehmigungen digitalisieren. Die Zeit der Zettelwirtschaft ist vorbei. Ein bundesweit einheitliches digitales Genehmigungsportal mit einer Maximalbearbeitungszeit von sechs Monaten würde dem Ausbau von Ladeinfrastruktur den dringend benötigten Schub geben. Inspirationen bietet das beschleunigte Verfahren bei Erneuerbaren bereits heute.

Die Verkehrswende hat den Schlüssel bereits im Schloss; sie braucht jetzt eine eindeutige Route, faire Spielregeln und digitale Standards, damit die Fahrt endgültig losgehen kann. Wer den Motor weiter im Leerlauf lässt, riskiert, dass Deutschland bei der Elektromobilität den Anschluss verliert. Die Bundesregierung ist gut beraten, jetzt auf die Überholspur zu wechseln, bevor uns andere Länder den Rang ablaufen.

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