Das Narrativ waberte schon länger durch Gespräche am Rande diverser Meetings oder Kommentare in den einschlägigen Medien. Der deutsche Weg zur Klimaneutralität bis Jahr 2045 sei wieder einmal ein deutscher Sonderweg, ein „Strebervorhaben“, schädlich für den Wirtschaftsstandort und zudem „illusorisch“. Mit dem Papier des Bundesfinanzministers hat es diese Argumentationsfigur nun erstmals in ein Strategiedokument einer demokratischen Partei in Deutschland geschafft, verbunden mit der Forderung, das deutsche Klimaneutralitätsziel zu verschieben und den Politikmix der Klimapolitik grundlegend zu verändern.
Es soll hier nicht darum gehen, ob das weltweite klimapolitische Handeln mit Blick auf die immer sichtbarer werdende Dramatik der globalen Klimaveränderungen problemangemessen ist. Der aktuelle Emissions-Gap-Bericht der UNEP gibt darauf eine klare Antwort: Ist es nicht.
Jenseits dessen ist jedoch auch die Frage interessant, ob das genannte Narrativ wirklich etwas mit den klima- und wirtschaftspolitischen Realitäten zu tun hat und was letztlich die Konsequenzen sind, wenn es handlungsleitend würde. Vordergründig klingt es ja einleuchtend, dass ein Klimaneutralitätsziel 2045, und damit fünf Jahre vor dem des European Green Deals einen deutschen Sonderweg beschreibt – wie immer man zu solchen Sonderwegen stehen möge.
Klimaneutralität durch Emissionshandel
Ein genauerer Blick auf die Architektur der europäischen Klimapolitik zeigt jedoch ein vollkommen anderes Bild. Wesentliche, wenn auch aus guten Gründen nicht die einzigen, Säulen des European Green Deals sind zwei sehr mächtige Instrumente. Einerseits das seit 2005 laufende Emissionshandelssystem für die Energiewirtschaft, die energieintensive Industrie sowie den internationalen See- und den Flugverkehr (EU ETS-1). Und andererseits das ab 2027 startende, aber schon im EU-Gesetzblatt stehende Emissionshandelssystem für andere Energieanlagen und den Straßenverkehr (EU ETS-2). In beiden Systemen werden die Emissionszertifikate auf sehr transparenten Pfaden verknappt: Im EU-ETS-1 werden im Jahr 2038 zum letzten Mal Emissionszertifikate ausgegeben, im EU ETS-2 im Jahr 2042, dazu jeweils noch in recht geringen Mengen.
Selbst wenn man die Mechanismen berücksichtigt, die aus den in beiden Systemen aus Stabilisierungsgründen bestehenden Reserven entstehen können, werden sich die genannten Zeitpunkte um nicht mehr als zwei Jahre verschieben. In anderen Worten: 2039, spätestens aber im Jahr 2041 werden Kraft- und Stahlwerke in Europa keine Treibhausgasemissionen mehr ausstoßen dürfen, im Jahr 2043, spätestens im Jahr 2045 werden Gasversorger und Kraftstofflieferanten in Europa keine fossilen Brennstoffe mehr in den Markt bringen können. Für alle Bereiche, die mit Energie oder Industrie zu tun haben, bedeutet dies: Klimaneutralität vor 2045, auf Basis geltenden Rechts.
Der zentrale Unterschied zwischen der realen europäischen Klimapolitik und dem deutschen Emissionsminderungsziel besteht damit darin, ob wir die Effekte einer aktiven Senkenpolitik zur Kompensation der nicht oder nur schwer vermeidbaren Emissionen (Landwirtschaft, Abfallwirtschaft, einige industrielle Prozesse) ab etwa 2040 oder aber fünf Jahre später erzielen müssen. Und das ist für den Wirtschaftsstandort Deutschland eine nicht ganz uninteressante Frage (auch der Markt der Senkentechnologien ist ja ein interessanter), aber letztlich keine entscheidende.
Wenn man die Begründung für die Revision des deutschen Klimaneutralitätsziels 2045 jenseits der formellen Harmonisierung ernst nehmen würde, heißt dies nicht mehr und nicht weniger, dass auch die europäischen Klimaschutzziele und deren zentrale Instrumente vor allem im Bereich der Emissionshandelssysteme ebenfalls „entschärft“ werden sollen. Deshalb ist meine These: Denjenigen, die heute das deutsche Klimaneutralitätsziel infrage stellen, geht es letztlich (bewusst oder unbewusst) auch darum, wesentliche Säulen der europäischen Klimapolitik massiv zu verändern.
Massiver Vertrauensverlust droht
Und da es sich hier um geltendes europäisches Recht und entsprechend komplexe Prozesse handelt, viele Wirtschaftssubjekte im Vertrauen auf den regulativen Rahmen (und den Hochlauf der relevanten Märkte) erhebliche Investitionsprogramme angeschoben haben, würde ein massiver Vertrauensverlust in den regulativen Rahmen der Klima-, Energie- und Wirtschaftspolitik entstehen. Auch und besonders mit Blick auf die Emissionshandelssysteme. Von den Ausstrahlungswirkungen auf die internationale Energie- und Klimapolitik einmal ganz zu schweigen.
Dem könnte entgegengehalten werden, dass „illusorische“ Vorhaben auch dann nicht realer werden, wenn sie politisch und rechtlich kodifiziert sind. Aber auch hier hilft ein Blick auf den aktuellen Analysestand. Eine Vielzahl von Untersuchungen diverser Regierungen, von wissenschaftlichen Einrichtungen bis zu Think Tanks und dem Bundesverband der Deutschen Industrie haben gezeigt, dass Klimaneutralität bis 2045/2050 eben keine Illusion ist, ungeachtet diverser Unterschiede im Detail.
Die deutschen und europäischen Klimaneutralitätsziele beziehen sich auf einen Zeithorizont, in dem die allermeisten Kapitalstöcke noch mindestens einmal ausgetauscht werden, es also die Möglichkeit relativ kostengünstiger Klimapolitik gibt. Wenn jetzt aber eine absehbar längere Phase neuer Unsicherheiten bezüglich des regulativen Rahmens losgetreten wird, kann es nur schwieriger und letztlich teurer werden.
Es braucht einen aufgeklärten Politikmix
Zu den Realitäten gehört in diesem Kontext aber auch, dass die Aufwendungen für die Transformation zu einem klimaneutralen Energie- und Wirtschaftssystem im Zeitverlauf unterschiedlich sind. Der Übergang von einem durch Betriebskosten zu einem durch Kapitalkosten geprägten System führt zu einem „Investitionsberg“, der mit einem aufgeklärten Politikmix adressiert werden muss. Um diesen Politikmix lohnt es sich zu streiten, welche Rolle also Emissionshandelssysteme spielen, wo andere Instrumente legitimiert werden können beziehungsweise notwendig sind und wie sich solche Politikmixe im Zeitverlauf verändern müssen.
Für einen aufgeklärten Diskurs dazu bedarf es geeigneter Formate, einer Enquete-Kommission „Klimaneutralität“ im nächsten Deutschen Bundestag zum Beispiel. Wer aber zuvörderst das deutsche Klimaneutralitätsziel oder ganze Politikmixe infrage stellt, der wirft im besten Falle Nebelkerzen, bewirkt aber am Ende wahrscheinlich Schlimmeres für die europäische Klimapolitik, den Wirtschaftsstandort Deutschland und Europa sowie das Weltklima.