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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte „Wir sollten die Preise für den ÖPNV in Nebenzeiten stark reduzieren!“

Mark Andor, Professor für Verhaltens- und Umweltökonomik an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und Leiter der Forschungsgruppe Prosoziales Verhalten am RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung
Mark Andor, Professor für Verhaltens- und Umweltökonomik an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und Leiter der Forschungsgruppe Prosoziales Verhalten am RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Foto: Sven Lorenz/RWI

In den vergangenen Monaten wird ausnahmslos über das Deutschlandticket diskutiert, wenn es um die Bepreisung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) geht. Zwar hat das Ticket Vorteile, ist aber für die meisten Deutschen nicht relevant und passt nicht in die Kostenstruktur des ÖPNV. Ist eine auslastungsabhängige, dynamische Bepreisung die Lösung?

von Mark Andor

veröffentlicht am 14.01.2025

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Ein großer Teil der Kosten des ÖPNV sind Fixkosten, die nicht von der Menge der transportierten Personen im jeweiligen Bus oder Zug abhängen. Die Schienen für Züge sind gelegt, die Busse und Züge gekauft und die Busfahrerinnen werden bezahlt, auch dann, wenn Busse und Züge leer durch Deutschland fahren. In einem leeren Zug oder Bus verursacht ein weiterer Fahrgast daher kaum zusätzliche Kosten.

Es gibt jedoch Zeiten, in denen ein weiterer Fahrgast durchaus Kosten verursacht: in Spitzenzeiten, wenn die Kapazitäten der Busse und Bahnen an ihre Grenzen kommen. Die Bahnfahrt wird für alle anderen Fahrgäste unkomfortabler, es kommt zunehmend zu längeren Wartezeiten und Verspätungen.

Preise in Nebenzeiten senken

Bei dieser Kostenstruktur ist eindeutig, was zu tun ist: Die Preise sollten sich je nach Auslastung der Kapazität anpassen. In Nebenzeiten sollte die Fahrt im ÖPNV also günstiger als in Spitzenzeiten sein. Es stellt sich dann die Frage, wie hoch die Preise sein und wie kompliziert das System ausgestaltet werden sollte. Um dies abschließend zu beantworten, müssten einige bisher nicht zur Verfügung stehende Informationen über die Nachfragereaktionen und die Präferenzen in der Bevölkerung erhoben werden.

Da es auch in Spitzenzeiten Anreize geben sollte, den ÖPNV zu nutzen, statt Auto zu fahren, ist es ökonomisch sinnvoll, dass selbst die Preise in Spitzenzeiten unter den eigentlichen Kosten der Fahrt liegen. Denn durch die Verlagerung von Autofahrten auf den ÖPNV sinkt im Straßenverkehr etwa die Länge von Staus, die Wahrscheinlichkeit von Unfällen und die Luftverschmutzung. Daher sollte der Preis für eine Fahrt mit dem ÖPNV auch zu Spitzenzeiten nicht steigen und auf einem Niveau sein, das im Vergleich zu den Kosten einer Autofahrt attraktiv ist.

In Nebenzeiten sollten die Preise für den ÖPNV allerdings deutlich sinken. Es ist eine Verschwendung von Kapazitäten, wenn Busse und Bahnen weitgehend leer durch das Land fahren, obwohl sie bei niedrigeren Preisen genutzt werden würden. Eine deutliche Senkung der Preise, so dass es echte Differenzen zwischen Spitzen- und Nebenzeiten gibt, wäre sinnvoll. Sprich: eine Fahrt für 1 Euro, 50 Cent oder gar kostenlos wäre denkbar.

Bis zu 20 Stunden Niedrigpreise am Tag

Durch eine solche dynamische Bepreisung würden zwei Anreize geboten. Erstens würden finanzielle Anreize gesetzt, in Neben- statt in Spitzenzeiten zu fahren und den ÖPNV somit in Spitzenzeiten zu entlasten. Zweitens würde die Nutzung des ÖPNV insgesamt angereizt, ohne zusätzliche Kosten zu verursachen. So zahlt man aktuell für eine Fahrt von Essen nach Bochum und zurück mit Bus und Bahn 14 Euro, selbst wenn die Busse und Züge weitgehend leer sind.

Dass bei dieser Preispolitik der ÖPNV gegenüber dem Auto nicht attraktiv ist, ist wenig überraschend. Um die Überlastung vieler Linien zu Spitzenzeiten nicht noch zu intensivieren und weiterhin Einnahmen zur Finanzierung des ÖPNV zu generieren, dürfte der Spielraum für Preissenkungen zu Spitzenzeiten limitiert sein. In Nebenzeiten sind jedoch substanzielle Preissenkungen denkbar, ohne dass damit (essenzielle) Kostensteigerungen einhergehen müssen.

Zur Ausgestaltung des dynamischen Preissystems gibt es viele Möglichkeiten mit unterschiedlicher Komplexität. Theoretisch wäre es möglich, jeden einzelnen Bus dynamisch zu bepreisen. Unternehmen wie Uber und der Fernverkehr der Deutschen Bahn setzen dies schon in Echtzeit für ihre Fahrten um. Jedoch wird von vielen – insbesondere in den Diskussionen rund um das Deutschlandticket – auch die „Einfachheit“ eines Tarifsystems als Kriterium hervorgehoben.

Daher könnte man dieses auch einfach halten: es werden Zeiträume definiert, bei denen in der Regel hohe Fahrgastzahlen zu erwarten sind, beispielsweise von Montag bis Freitag zwischen 7 und 9 Uhr sowie 16 und 18 Uhr, und alle anderen Zeiten gelten als Nebenzeiten. Letzteres wäre weniger genau in Bezug auf die Kapazitätsauslastung, hätte aber den Vorteil der einfachen Handhabung und Planbarkeit. Zwischen diesen beiden recht unterschiedlichen Ausgestaltungsvarianten sind einige weitere Möglichkeiten denkbar.

Verluste für Verkehrsunternehmen überschaubar

Ähnlich ist es mit der Festsetzung des Preises in Nebenzeiten: ein gewisser Betrag wie 50 Cent oder 1 Euro würde wahrscheinlich Sinn ergeben – gewisse, geringe Kosten wie der Kraftstoffverbrauch oder die durchschnittliche Abnutzung des Busses durch einen zusätzlichen Fahrgast entstehen selbst bei relativ leeren Bussen. Vielleicht wäre es jedoch sogar pragmatisch, in den Nebenzeiten den ÖPNV kostenlos anzubieten, weil hierdurch auch einige Kosten wegfallen würden – beispielsweise für Fahrkartenkontrolle und Tarifsystem.

Die Effekte auf der Einnahmenseite der Verkehrsunternehmen wären nicht zwangsläufig negativ und selbst im schlechtesten Fall überschaubar. So wird die sogenannte Spitzenlasttarifierung und eine zeitliche Preisdifferenzierung auch in einigen anderen Bereichen (wie Happy Hours, Saisonschlussverkauf, Stromtarife) angewendet, sogar mit dem Ziel, die Einnahmen zu erhöhen. Wenn die Preise in Nebenzeiten gesenkt werden, gibt es zwei Effekte: einen Mengeneffekt (tendenziell mehr Fahrgäste) und einen Preiseffekt (jeder Fahrgast zahlt weniger).

Bei weitgehend leeren Bussen und Bahnen ist der Preiseffekt nicht sehr hoch einzuschätzen – die wenigen, die fahren, haben häufig sogar ein Aboticket. Tatsächlich liegt die durchschnittliche Auslastung des ÖPNV relativ stabil bei unter 25 Prozent. Preissenkungen bringen das Potential für neue Fahrgäste – also einen positiven Mengeneffekt – mit sich, wie Erfahrungen mit sehr günstigen Tickets oder kostenlosem ÖPNV zeigen. Des Weiteren könnten sehr günstige ÖPNV-Preise zu Nebenzeiten insgesamt zu einer stärkeren Nachfrage führen. Letztlich müsste man für die Abschätzung der Einnahmeneffekte die konkrete Reaktion der Nachfrage bei solch niedrigen Preisen kennen (Ökonomen sprechen von der Preiselastizität der Nachfrage).

Vorteile für Gelegenheitsnutzerinnen und einkommensschwache Haushalte

Die Einführung der dynamischen Bepreisung könnte statt, aber auch ergänzend zum Deutschlandticket stattfinden. Denn fraglich ist beim einfachen Deutschlandticket, ob die hohe Subventionierung wirklich sinnvoll und fair ist. Beispielsweise weil von ihr auch Gutverdienende in Ballungsregionen profitieren, die bereits vor Einführung des Deutschlandtickets hauptsächlich den ÖPNV genutzt haben.

Aktuell haben Besitzerinnen und Besitzer des Tickets keinerlei finanzielle Anreize, auf Nebenzeiten auszuweichen. Zudem bietet das Ticket nur einem Teil der deutschen Bevölkerung Vorteile: Personen, die sehr regelmäßig den ÖPNV sinnvoll nutzen können, eine gute Anbindung an den ÖPNV und die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung haben.

Eine – wie hier vorgestellte – dynamische Bepreisung würde dagegen auch Gelegenheitsnutzerinnen und einkommensschwachen Haushalten erweiterte Möglichkeiten zur Mobilität bieten, wie sie insbesondere während der Verfügbarkeit des 9-Euro Tickets gerne genutzt wurden. Wenn die deutsche Gesellschaft eine starke Präferenz für „einfache“ Ausgestaltungen hat und die dynamische Bepreisung wie oben skizziert vollzogen wird, könnte man sich auch ein Deutschlandticket für Nebenzeiten vorstellen, welches dann sehr günstig ist und dafür kostenlose Fahrten nur in Nebenzeiten erlaubt.

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