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Agrar & Ernährung

Standpunkte Forderung nach zeitgemäßen, wissenschaftlich schlüssigen Ernährungsempfehlungen

Anna-Lena Klapp, Leiterin für Ernährung und Gesundheit bei ProVeg International
Anna-Lena Klapp, Leiterin für Ernährung und Gesundheit bei ProVeg International Foto: ProVeg International, Foto: Anna-Lena Klapp

Ausgewogene Ernährungsempfehlungen müssen wissenschaftlich transparent und nachvollziehbar sein, betont Anna-Lena Klapp, Leiterin für Ernährung und Gesundheit bei ProVeg International. Am Beispiel Kanada argumentiert sie, dass selbst Länder mit einer starken Fleischindustrie die Bedürfnisse der Öffentlichkeit in den Vordergrund stellen können. Konsummuster und Marktentwicklung in Deutschland sprächen längst dafür. Sie appelliert für mehr politischen Mut gegenüber der Fleischindustrie.

von Anna-Lena Klapp

veröffentlicht am 15.03.2024

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Deutschland hat neue offizielle Ernährungsempfehlungen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) hatte ihre Empfehlungen zuletzt 2017 überarbeitet. Die Akteurinnen und Akteure des gesamten Ernährungssystems haben die Neufassung schon gespannt erwartet.

Die Empfehlungen der DGE haben vor allem indirekt Einfluss auf unsere Ernährung. Sie beeinflussen unter anderem die Menüplanung in der Gemeinschaftsverpflegung – in Betriebskantinen, an Universitäten und an Schulen. In fünf Bundesländern sind sie für die Gestaltung der Schulverpflegung sogar verbindlich. Die Richtlinien sind außerdem Teil der Ausbildung von Ernährungsfachkräften.

Erstmals berücksichtigt die DGE neben Ernährungs- und Gesundheitsaspekten auch Nachhaltigkeits- und Umweltkriterien. Das ist sehr zu begrüßen und auch dringend notwendig. Unsere Ernährung ist für ein Drittel der globalen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. Fleisch und Milchprodukte belasten das Klima mit am stärksten. Wirkliche Fortschritte beim Klimaschutz sind nur erreichbar, wenn wir die Tierbestände deutlich verringern und tierische Produkte durch attraktive pflanzliche Optionen ersetzen. Natürlich ist dabei entscheidend, auch die Landwirtinnen und Landwirte mitzudenken und ihnen Perspektiven aufzuzeigen. Das geschieht zum Beispiel schon durch die 20 Millionen Euro, die die Bundesregierung als Transformationshilfe im Haushalt 2024 bereitstellt.

Ernährungsempfehlungen sollten dabei richtungsweisend sein. Vor diesem Hintergrund hat die DGE ihre offiziellen Empfehlungen für den Verzehr von Fleisch und Milch gesenkt. Auch das ist ein wichtiger und begrüßenswerter Schritt. Dennoch gibt es einige Ungereimtheiten.

Zeitgemäße Empfehlungen statt Zugeständnisse an die Fleischindustrie

Im April 2023, also vor knapp einem Jahr, gewährte die DGE Expertinnen und Experten im Rahmen einer Konsultation einen ersten Blick auf den Entwurf der neuen Richtlinien und nahm Kommentare dazu an. Die Empfehlungen zum Fleischkonsum in diesem ersten Entwurf fielen als erstaunlich progressiv auf: Die neu entwickelte Berechnung ergab eine Höchstmenge von rund 70 Gramm Fleisch pro Woche. Das entspricht in etwa einem Wiener Würstchen oder drei Scheiben Salami.

Die Reaktion der Fleischindustrie ließ nicht lange auf sich warten. „Man will uns die Currywurst verbieten“, war in zahlreichen Stellungnahmen der Industrie zu lesen. Was natürlich Quatsch ist. Über hundert Länder weltweit haben offizielle Ernährungsempfehlungen. Sie beruhen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und sollen aufzeigen, wie unsere Ernährung zusammengesetzt sein müsste, um eine optimale Gesundheit der Bevölkerung und zunehmend auch des Planeten erreichen zu können. Diese offiziellen Positionen sind außerordentlich wichtig, um unser Ernährungssystem auf der Grundlage von Fakten zukunftsfähig zu machen.

Heute sucht man die 70 Gramm Fleisch pro Woche in den neuen Empfehlungen jedoch vergebens. Stattdessen beträgt die empfohlene Verzehrmenge nun 300 Gramm. Das entspricht exakt der unteren Grenze des bisher empfohlenen Bereichs. Ohne Frage ein Fortschritt, aber als Vervierfachung bei gleicher Datenlage wissenschaftlich nicht plausibel.

Man wolle sich den aktuellen Konsummustern der Bevölkerung annähern, um die Akzeptanz zu erhöhen, begründete die DGE ihren Schritt. Allerdings hatte sie bereits 2023 erklärt, die „kulturelle Akzeptanz“ als eine wichtige Bedingung zu berücksichtigen. Und tatsächlich sinkt der Fleischkonsum in Deutschland seit Jahren kontinuierlich und ist derzeit auf einem Rekordtief.  Sind die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre am Ende mutiger als die DGE?

Auch Länder mit starker Fleischindustrie sind der Öffentlichkeit verpflichtet

Über die Gründe für die Entscheidung der DGE lässt sich nur spekulieren. Es wäre allerdings nicht das erste Mal, dass nationale Ernährungsempfehlungen an die Interessen der Fleischindustrie angepasst werden. So hat sich eine Gruppe von Interessenvertretern der Lebensmittelindustrie 2013 zum Beispiel in Australien gegen die Aufnahme von Nachhaltigkeitsaspekten in die dortigen Ernährungsempfehlungen eingesetzt. Die Folge war, dass dieses wichtige Kriterium tatsächlich nicht integriert wurde. Nachzulesen ist der Fall in einem offiziellen Dokument der Welternährungsorganisation (FAO).

Im Rahmen meiner Doktorarbeit veröffentlichte ich 2022 eine internationale Analyse, die den strukturellen Einfluss der Wirtschaft offenbart: Je größer der Anteil der Fleischindustrie am Bruttoinlandsprodukt eines Landes, desto eher empfiehlt es seiner Bevölkerung zur Deckung bestimmter Nährstoffe ausschließlich tierische Produkte – und nennt weniger pflanzliche Optionen.

Es gibt aber auch Beispiele, die Mut machen. Kanada hat seine offiziellen Ernährungsempfehlungen 2019 aktualisiert. Auch dort ermöglichte ein Konsultationsprozess, Kommentare zum ersten Entwurf einzureichen, ähnlich wie in Deutschland. Die Fleischindustrie ist der größte Zweig der kanadischen Lebensmittelindustrie. Sie war mit der Empfehlung, weniger Fleisch und mehr pflanzliches Protein zu konsumieren, ganz und gar nicht einverstanden. Auch in Kanada führte die Fleischindustrie eine mediale Kampagne. Die kanadische Regierung blieb jedoch bei ihren Empfehlungen und wies ausdrücklich darauf hin, dass es ihre Aufgabe sei, die Empfehlungen wissenschaftlich basiert und im Sinne der öffentlichen Gesundheit und der ökologischen Nachhaltigkeit frei von Industrieinteressen zu halten.

Konsum und Marktentwicklung sprechen für progressivere Empfehlungen

Mit Blick auf die aktuellen Konsummuster in Deutschland wirft außerdem die Entscheidung der DGE, pflanzenbasierte Alternativen wie Tofuwürstchen, Sojahack oder mit Kalzium angereicherte Hafermilch von den Empfehlungen auszuschließen, einige Fragen auf. Pflanzliche Alternativprodukte gelten gerade für Flexitarier als Hilfestellung für eine pflanzenbetontere Ernährung. Deutschland verzeichnet den höchsten Umsatz mit pflanzlichen Alternativprodukten in Europa.

Wer Alternativprodukte anerkennt, kann sinnvolle Empfehlungen aussprechen und den Menschen zum Beispiel mit Kalzium angereicherte Sojamilch und Alternativprodukte mit einem geringen Zucker-, Salz- und Fettgehalt nahelegen. Diese Chance hat die DGE leider verpasst. Fast die Hälfte aller nationalen Ernährungsempfehlungen weltweit erwähnen bereits pflanzliche Alternativen zu Fleisch oder Milchprodukten. Schweden hebt pflanzliche Alternativen in seinem Ernährungskreis sogar explizit mit einem grünen Symbol hervor und verweist auf die ökologischen Vorteile.

Wie derartige Beispiele zeigen, ist es mit genügend politischer Weitsicht absolut möglich, den gesundheitlichen, nachhaltigen und gesellschaftlichen Anforderungen an unsere Ernährung gerecht zu werden. Der erste Schritt hin zu ausgewogenen Ernährungsrichtlinien ist getan – und Deutschland ist bereit, weiterzugehen.

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