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Agrar & Ernährung

Standpunkte Regenerative Landwirtschaft – die transformative Chance für die Lebensmittelindustrie

Robert Gerlach, Gründer und CEO des Agritech-Start-ups Klim
Robert Gerlach, Gründer und CEO des Agritech-Start-ups Klim Foto: Klim

Regenerative Landwirtschaft kann die Böden retten, Lieferketten stabilisieren und die Lebensmittelindustrie profitabler machen – davon ist Robert Gerlach, Gründer und CEO des Agritech-Start-ups Klim, überzeugt. Angesichts der alarmierenden Bodendegradation und des Klimawandels appelliert er: Jetzt ist der Moment, durch innovative Ansätze wie Insetting die Transformation aktiv zu gestalten und Ernährungssicherheit nachhaltig zu sichern.

von Robert Gerlach

veröffentlicht am 19.12.2024

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Wenn von den großen Herausforderungen unserer Zeit die Rede ist, stehen oft der Klimawandel und geopolitische Spannungen im Fokus. Doch eine ebenso fundamentale Krise bleibt weitgehend unbemerkt: die schleichende Degradierung unserer Böden. Diese stille Krise bedroht nicht nur die globale Ernährungssicherheit, sondern auch die wirtschaftliche Stabilität und die Lieferketten der Lebensmittelindustrie.

Doch genau hier liegt eine der größten Chancen unserer Zeit. Regenerative Landwirtschaft ist nicht nur eine Lösung für die Bodenkrise – sie ist ein wirtschaftlicher Hebel, der die Lebensmittelindustrie profitabler und zukunftsfähiger machen kann.

Eine stille Krise mit weitreichenden Folgen

Die Fakten sprechen für sich: Laut der Europäischen Kommission gelten 60 bis 70 Prozent der Böden in Europa als nicht gesund. Weltweit gelten 33 Prozent der fruchtbaren Böden als degradiert und jedes Jahr gehen Flächen in der Größe Bulgariens verloren.

Die Böden haben zudem bereits 50 Prozent ihres ursprünglichen Bodenkohlenstoffs verloren – ein entscheidender Faktor für Fruchtbarkeit und Klimaresilienz, mit dramatischen Auswirkungen auf den Klimawandel. So haben Böden seit Beginn der modernen Landwirtschaft etwa 500 Milliarden Tonnen CO2 durch die Zerstörung von Bodenkohlenstoff in die Atmosphäre abgegeben – das Zehnfache der Emissionen aller jemals durchgeführten Flüge.

Dieser Verlust hat weitreichende Folgen: Ernteausfälle, schwankende Rohstoffpreise und eine geringere Qualität der Erzeugnisse setzen die gesamte Lebensmittelbranche unter Druck. Ein aktuelles Beispiel ist die diesjährige Weizenernte in Deutschland, die nicht nur rückläufig war, sondern auch einen niedrigeren Proteingehalt aufwies – ein Qualitätsmerkmal, das essenziell für die weitere Verarbeitung ist. Ursachen wie Stickstoffmangel und intensive Bodenbearbeitung zeigen, wie dringend ein Umdenken erforderlich ist.

Humus als zentraler Bestandteil eines gesunden Bodens

Zugegeben, diese Zahlen wirken recht abstrakt und sind schwer einzuordnen. Denn um überhaupt bewerten zu können, wie dramatisch die Situation der abnehmenden Bodengesundheit ist, ist es wichtig, zu verstehen, was einen gesunden Boden ausmacht. Ein zentraler Bestandteil eines gesunden Bodens ist Humus. Dabei handelt es sich um organisches Material, das entsteht, wenn Mikroorganismen wie Bakterien und Pilze im Laufe der Zeit pflanzliche und tierische Stoffe zersetzen.

Bei diesem Prozess setzen sie wiederum lebenswichtige Nährstoffe frei, die für das Pflanzenwachstum und für eine gesunde Nahrungsmittelproduktion notwendig sind. Dazu gehören Stickstoff, Phosphor und Kalium. Das verbleibende Material wird dann als Humus bezeichnet; es ist besonders reich an organischen Verbindungen.

Humus hat verschiedene Eigenschaften, die für einen gesunden Boden entscheidend sind. So sorgt er dafür, dass die Bodenstruktur ausreichend locker ist, damit Pflanzenwurzeln gut mit Sauerstoff versorgt werden. Außerdem absorbiert und speichert Humus Feuchtigkeit, sodass humusreiche Böden als große Wasserspeicher dienen. Ein gesunder Boden kann ein Vielfaches seines Gewichts an Wasser speichern – und in Trockenzeiten wieder an Pflanzen zurückgeben.

Zentral ist zudem die Fähigkeit von Humus, große Mengen an Kohlenstoff zu speichern. Gesunde Böden können bis zu 1500 Milliarden Tonnen Kohlenstoff speichern, was zur Regulierung der CO2-Emissionen in der Atmosphäre beiträgt.

Regenerative Landwirtschaft: ein unterschätztes Wirtschaftsinstrument

Hier setzt die regenerative Landwirtschaft an. Sie stellt die Gesundheit der Böden wieder her, indem sie natürliche Prozesse unterstützt: den Anbau von Zwischenfrüchten, reduzierte Bodenbearbeitung und Diversifizierung der Kulturen. Diese Methoden fördern die Humusanreicherung, steigern die Fruchtbarkeit und erhöhen die Klimaresilienz der Böden. Zudem tragen sie dazu bei, den Kohlenstoff im Boden zu binden und die Emissionen zu senken.

Ein häufiger Irrglaube ist, dass regenerative Landwirtschaft nur für kleine Betriebe geeignet sei. Doch Erfahrungen aus Nordamerika, Europa und Afrika zeigen, dass sie auch in großem Maßstab umgesetzt werden kann. Unternehmen, die regenerative Praktiken fördern, berichten von stabileren Erträgen, höherer Produktqualität und langfristig geringeren Kosten für externe Inputs wie Düngemittel.

Die Chance für die Lebensmittelindustrie: Insetting

Die Lebensmittelindustrie steht an einem Wendepunkt. Unternehmen wie Nestlé, Unilever und General Mills haben erkannt, dass regenerative Landwirtschaft mehr ist als ein ökologisches Konzept. Sie ist eine strategische Investition in die Zukunft ihrer Lieferketten. Durch sogenanntes Insetting treiben diese Unternehmen die Umstellung voran.

Insetting bedeutet, direkt in die Transformation der eigenen Lieferkette zu investieren. Landwirte werden unterstützt, regenerative Praktiken einzuführen und die Bodengesundheit zu verbessern. Dies schafft Win-win-Situationen: Landwirte profitieren von stabileren Erträgen, geringeren Kosten und einer verbesserten Rentabilität. Unternehmen gewinnen resiliente Lieferketten, stabile Rohstoffpreise und die Möglichkeit, Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.

Ein Beispiel: Nestlé hat sich verpflichtet, bis 2030 die Hälfte seiner Rohstoffe aus regenerativer Landwirtschaft zu beziehen. Dieses Ziel ist ehrgeizig, aber erreichbar – und es setzt einen neuen Standard für die gesamte Branche.

Klimawandel und Ernährungssicherheit: die Dringlichkeit, zu handeln

Die schwindende Bodengesundheit wird durch den Klimawandel weiter verschärft. Extremwetterereignisse wie Dürren, Starkregen und Überschwemmungen nehmen zu und setzen Böden zusätzlich unter Druck. Degradierte Böden können weder Wasser speichern noch die Auswirkungen von Starkregen abfedern, was zu weiteren Erosionen und Verlusten führt.

Die Bodendegradation gefährdet auch die globale Ernährungssicherheit. Ernteeinbrüche und die Abnahme der Produktqualität sind nicht nur ein Problem für Landwirte, sondern betreffen die gesamte Lebensmittelwertschöpfungskette. Gleichzeitig steigen die Preise und die Unsicherheit in den Lieferketten. Doch die gute Nachricht ist: Die Werkzeuge für den Wandel liegen bereits vor uns. Regenerative Landwirtschaft ist keine Utopie – sie ist skalierbar, bewährt und wirtschaftlich sinnvoll.

Die transformative Kraft der Zusammenarbeit

Die Transformation hin zu regenerativer Landwirtschaft erfordert gemeinsames Handeln. Einzelne Unternehmen können viel bewirken, doch die wahre Kraft liegt in der Zusammenarbeit der gesamten Branche. Gemeinsame Standards, Wissenstransfer und gezielte Investitionen könnten die Transformation beschleunigen und die Wettbewerbsfähigkeit der Lebensmittelindustrie stärken.

Die beste Zeit, diese Transformation einzuleiten, war vor 50 Jahren. Die zweitbeste Zeit ist heute. Die Bodenkrise lässt uns keinen Spielraum für Verzögerungen. Doch wer jetzt handelt, kann nicht nur die Risiken der Zukunft mindern, sondern auch von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Chancen profitieren.

Regenerative Landwirtschaft ist mehr als ein ökologisches Konzept. Sie ist ein wirtschaftlicher Hebel und eine notwendige Lösung für eine der größten Krisen unserer Zeit. Unternehmen haben die historische Chance, nicht nur Teil der Transformation zu sein, sondern sie aktiv zu gestalten. Die Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit liegt buchstäblich unter unseren Füßen. Jetzt ist der Moment, diese Chance zu ergreifen.

Dr. Robert Gerlach ist Gründer und CEO des Agritech-Start-ups Klim. Sein Unternehmen arbeitet daran, den Übergang zur regenerativen Landwirtschaft weltweit zu beschleunigen.

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