In Teilen der Gesellschaft erodiert das Sicherheitsgefühl. Existenzängste breiten sich aus. Tag für Tag wächst der Entscheidungsdruck für die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten, weiteren wirtschaftlichen Schaden abzuwenden. Es ist aber unklar, wie ein rascher Ausweg aus dem Stillstand, der nicht schon bald wieder zu einem neuerlichen Lockdown führt, genau aussehen kann. Auch wenn bereits Lösungen für die Fußball-Bundesliga erarbeitet werden: zur eigentlichen Kernfrage, wie das Land insgesamt mit der andauernden Pandemie umgehen kann, gibt es kaum durchdachte Ansätze. Streit gibt es auch um die Corona-App, von der sich etwa das Robert-Koch-Institut eine Verbesserung der Kontaktsuche und damit eine effizientere Eindämmung des Virus verspricht. Diese Debatten kündigen eine stärkere Opposition hinsichtlich aller zukünftigen Corona-Maßnahmen an. Auch im Bundestag ist der „politische Burgfrieden“ bereits aufgekündigt worden.
Globaler Trend der autoritären Digitalisierung
Die Kleinteiligkeit dieser Debatten sollte nicht den Blick auf das große Ganze verstellen. Es geht nicht um eine einzelne App, einen neuen Standard oder die Rettung der Bundesliga, sondern letztlich um die Errichtung einer neuen digitalen Architektur für die nationale Gesundheitspolitik. Diese stellt nichts minder als ein Paradigmenwechsel für unsere Gesellschaft dar. Und zwar in doppeltem Sinne: Angesichts des jetzt herrschenden Zeitdrucks ist die schleppende Umsetzung der Digitalisierung in Deutschland passé. Während wir ins berühmte Merkelsche „Neuland“ vordringen, bleibt kaum Zeit für Reflexion.
Zugleich müssen unbrauchbare Stereotypen und Grabenkämpfe, die unsere Debatten jetzt prägen, im Zeitraffer überwunden werden. Bislang war es einfach, eine Haltung einzunehmen, die reflexartig Chinas digitalen Überwachungsstaat dämonisiert oder die Datenkraken Google und Apple kritisiert. Nun stehen wir selbst vor der Herausforderung, ein umfassendes System digitaler Datenerhebung aufzubauen, um die Covid-19-Pandemie kontrollieren zu können. Dieser Paradigmenwechsel scheint nach bestem Dafürhalten momentan alternativlos. Es bleibt jedoch ein schwieriger Balanceakt, denn der globale Trend der „autoritären Digitalisierung“ war auch ohne COVID-19 schon eine Bedrohung für offene Gesellschaften.
Wer kontrolliert die Kontrolleure?
Während die technischen Details der Tracing-App kontrovers diskutiert werden, bleiben die größeren Fragen unbeantwortet: Wie können Überwachungsinfrastrukturen demokratisch implementiert werden? Wer kontrolliert die Kontrolleure? Wie soll die digitale Ordnungspolitik zwischen Staat, Gesellschaft und Wirtschaft kalibriert werden? Wer wird die Daten-Ernte einfahren und zu welchem Zweck? Wie können Gesundheitsdaten so erfasst werden, dass sie nur in legitimierte Hände gelangen und nicht von Google oder Alibaba verarbeitet werden? Alle Entscheidungen, die nun notwendigerweise getroffen werden müssen, um unsere persönliche Mobilität wieder zu erlangen und das unternehmerische Fundament der sozialen Marktwirtschaft zu retten, werden auch mit Blick auf diese Fragen langfristige Auswirkungen haben.
Die Politik agiert unter Entscheidungszwang
Dazu ist die Entscheidung über digitale Lösungen jetzt unter der Bedingung hoher Unsicherheiten zu treffen und daher eine Zumutung. Besonders weil unwägbare wirtschaftliche und soziale Kosten entstehen und jede Entscheidungsoption unweigerlich gewohnte Rechte einschränken wird. Im Normalfall würden in einer solchen Situation Entscheidungen in der Politik vermieden. Momentan ist diese jedoch mit Entscheidungszwang konfrontiert. Unvermeidlich ist hierbei die Neubalancierung betroffener Rechtsgüter, die vielleicht für lange Zeit eine andere Rolle einnehmen werden.
Unter diesen Bedingungen ist bei den App-Lösungen sowie hinsichtlich der gesamten Digitalarchitektur ein pragmatischer Umgang zu empfehlen. Das gilt sowohl auf der politischen als auch auf der unternehmerischen Ebene. Fortschritt und Erneuerung sind schon immer durch die Kraft des Improvisierens befördert worden. Das Land der Dichter und Denker hat genügend Ideen, wie der Hackathon der Bundesregierung gezeigt hat. Jetzt braucht es Umsetzerinnen. Das hierbei auftretende Risiko, die Angreifbarkeit der Entscheidung, die nachträgliche Infragestellung ihrer Legitimität, muss dabei in Kauf genommen werden. Es ist eine Tatsache, dass die Koexistenz mit dem Coronavirus erst erlernt werden muss. In diesem Lernprozess wohnt jeder Entscheidung immer auch die Möglichkeit des Scheiterns inne.
Divers besetztes Gremium für die digitale Governance
Die digitale Architektur ist Teil einer langfristigen Pandemie-Kontrolle, die den Lockdown ersetzt. Prinzipienreiterei verhindert hier neue Blickwinkel und Lösungsansätze. Die „Dual-Use“-Charakteristik digitaler Technologien ist ohnehin grundsätzlich vorhanden: Wir nutzen das Messer, um Gemüse zu schneiden, es kann bei entsprechendem Vorsatz aber auch Tötungsinstrument sein. Der Schlüssel zur Lösung dieser Ambivalenz digitaler Lösungen ist ein beständiges Hinterfragen ihrer Wirksamkeit und ein Beobachten ihrer nicht intendierten Nebenwirkungen.
Gesetzgeberisch bedeutet dies, atmende Lösungen zu ermöglichen. Apps und andere Komponenten einer digitalen Architektur müssen weiterhin kritisch diskutiert und ausgetauscht werden, wenn deutlich wird, dass sie nicht die richtigen Werkzeuge für das Problem darstellen. Deutschland fehlt hierzu noch eine schlagkräftige Task-Force mit diverser Besetzung, die die digitale Governance für die Corona-Architektur fortentwickelt, laufend die Maßnahmen evaluiert und Verbesserungsvorschläge erarbeitet. Soziale und technische Aspekte sind hier gleichermaßen wichtig. So ein Gremium könnte ans Corona-Kabinett angedockt werden.
Insgesamt ist ein solcher permanenter Lernansatz die Voraussetzung für zukunftsorientierte und resiliente Reaktionen auf das Virus und liegt auch dem Erfolg der Demokratien Ostasiens zugrunde. Gerade Taiwan ist hier Vorreiter bei der demokratisch und wirtschaftlich verträglichen Eindämmung der Pandemie. Das Land hatte aufgrund der Erfahrung mit SARS nicht nur eine bereits existierende Pandemie-Planung, sondern hat auch sukzessive Apps, Webseiten und Monitoringsysteme ausprobiert und verbessert, um die Kontaktsuche effizienter zu machen und die Verbreitung des Virus unter Kontrolle zu halten.
Denise Feldner ist Innovationsmanagerin und Beraterin für digitale Technologien in Berlin und London. Maximilian Mayer lehrt als Assistenzprofessor für Internationale Studien an der Universität Nottingham Ningbo China. Die Autoren sind Mitglieder der Corona-Beratungsplattform des Bundesinnenministeriums und im Leitungsgremium des Asian Europe Consortium for AI Research.