Deutschland hat die Digitalisierung der letzten Jahrzehnte in vielen Bereichen einfach verschlafen. Der Rückstand ist inzwischen so deutlich, dass er nicht mehr geleugnet werden kann. Auch die Coronapandemie hat Schwächen aufgezeigt, die es nicht erlauben, einfach zur Tagesordnung zurückzukehren. Dies weiterhin nicht zur Kenntnis zu nehmen, wäre für die Zukunft des Landes fatal.
Unsere wichtigste Baustelle ist dabei unsere Einstellung zur Digitalisierung – die müssen wir verändern. Die Digitalisierung ist eine Tatsache, die wir anerkennen müssen. Sie kann nicht mehr darauf reduziert werden, dass es hier um eine Kunst geht, die wir Deutsche eben nicht beherrschen und die in den USA, Japan und China gepflegt wird. Wir müssen aufhören, so zu tun, als sei es sozusagen undeutsch, über Digitalisierung nachzudenken oder selbst zu programmieren. Es gibt keinen biologischen oder kulturellen Grund, warum Deutsche nicht in der Lage sein sollten, ebenso erfolgreich zu programmieren oder Systeme zu entwickeln wie Menschen aus den USA, Japan oder China.
Im Gegenteil: Der deutsche Ingenieur Konrad Zuse hat die erste Maschine gebaut, die man als den Ursprung von Computern bezeichnen kann. Das war kein Zufall, denn mit David Hilbert und vielen anderen Kollegen aus der deutschen Mathematik wurden wesentliche theoretische Grundlagen für die Entwicklung und Nutzung von Computern vor 1933 in Deutschland gelegt.
Und gerade die Beispiele Japan und China zeigen, dass sich Digitalisierung sehr gut mit einer alten, hochentwickelten und kreativen Kultur verbinden kann. Wenn ein Land wie China, das stolz ist auf seine 5000-jährige Geschichte, die neue Welt der Digitalisierung umarmen kann, dann kann das auch das Volk der Dichter und Denker.
Wer ein gutes Gedicht schreiben kann, der kann auch programmieren
Wie die deutschen Mathematiker des 19. Jahrhunderts ihre Arbeit mit der Lektüre klassischer Literatur von Homer bis Goethe vereinbaren konnten, so können das auch Deutsche im 21. Jahrhundert. Ein Gedicht zu schreiben, gehört nur in einer Welt, die versucht, Kunst und Gesellschaft fein säuberlich voneinander zu trennen, nicht in die gleiche Kategorie wie das Schreiben eines Programms. Das ist es auch, was ich meinen Studierenden sehr früh in meiner Vorlesung zur Informatik sage: Wer ein gutes Gedicht schreiben kann, der kann auch programmieren. Beides erfordert die Fähigkeit zur Abstraktion ebenso wie die Fähigkeit zur Kreativität. Beides muss sich an Normen orientieren und wird erst herausragend, wenn es über diese Normen hinausgehen kann und die Abstraktion nutzt, um sich kreativ auszudrücken in dem Bedürfnis, ein gestecktes Ziel zu erreichen.
Dass Deutsche gerne philosophieren, ist kein Grund, die Digitalisierung zu verteufeln. Im Gegenteil: In der Philosophie und im Philosophieren greifen wir auf Fähigkeiten zurück, die wir auch in der Programmierung brauchen. Bei beiden geht es darum, sprachlich adäquate Ausdrücke zu finden. Bei beiden geht es darum, sich abstrakt auszudrücken und über den Einzelfall hinaus eine abstrakte Beschreibung der Realität zu finden als Antwort auf eine Frage, die uns die Welt stellt. Zuletzt geht es in beiden Fällen darum, über das logische Denken zu einer allgemeinen Lösung zu kommen.
Informatik und Digitalisierung schreckenviele ab
Trotzdem sind die Vorbehalte groß. Das liegt an einem Teufelskreis, den wir in Zukunft werden durchbrechen müssen. Wir lernen zu wenig über Digitalisierung an unseren Schulen. Wir entlassen unsere Kinder ohne die notwendigen Kenntnisse in eine digitalisierte Welt, die ihnen in Arbeit und Freizeit abverlangt, mit digitalen Medien und Werkzeugen umzugehen.
Kein Wunder, dass die Menschen Angst davor haben, digitalisierte Werkzeuge über das Smartphone hinaus zu nutzen. Die endlosen Debatten über die Gefahren des Internets und den Internetkonsum durch unsere Kinder sind einer Unwissenheit geschuldet, die wir konsequent seit Jahrzehnten nicht beseitigen.
Mangelnde Bildung führt also zu mangelndem Verständnis und damit zu Ängsten und Vorbehalten. Oder einfacher gesagt: Wer es nicht besser weiß, muss seine Wissenslücken mit Ängsten füllen und wird dadurch erst recht blockiert.
In der Folge stehen dann auch Eltern der Digitalisierung in der Schule skeptisch gegenüber und der Kreis beginnt von Neuem. So haben seit den 1980er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Generation nach der anderen die Digitalisierung weniger verschlafen, als vielmehr verdrängt oder sich vor ihr versteckt. Zuverlässig führt daher im persönlichen Gespräch die Aussage „Ich habe Informatik studiert“ zur Reaktion: „Oh Gott, davon versteh ich ja gar nichts“. So wie Menschen sich so oft nur mit Schrecken an den Mathematikunterricht ihrer Schulzeit erinnern, so schrecken sie auch vor der Digitalisierung zurück.
Arroganz und Abwehrreaktionen
Am Ende führt das zu zwei typischen Reaktionen. In einer Diskussion über Digitalisierung in der Schule empörte sich ein Wissenschaftler: „Meine Kinder müssen so etwas nicht lernen. Wenn sie das brauchen, kaufen sie sich einen billigen Chinesen.“ Aus diesem Satz spricht eine Arroganz, die sich auf die Erfolge der Deutschen beim Meistern der Technologien des 20. Jahrhunderts stützt.
Die Herausforderung der Digitalisierung als treibende Kraft des 21. Jahrhunderts wird völlig ignoriert. Digitalisierung wird stattdessen als exotisch, fremd und als nicht geeignet für gebildete Deutsche angesehen – eine klassische Abwehrreaktion. In vielen Diskussionen wird ein weiteres Argument vorgebracht: „Ja, sollen wir etwa auf Latein verzichten?“ Hier wird die Digitalisierung als Bedrohung des bestehenden Bildungskanons angesehen. Dafür gibt es keinen Grund. Der deutsche Bildungskanon enthält alle Grundlagen für die Programmierung. Auch die lateinische Sprache hilft, logisches Denken zu fördern und abstrakte Konzepte zu verstehen. Informatik und Digitalisierung können also in den Unterricht eingebaut werden. Aber wir müssen es wollen.
Michael Resch ist seit 2003 Direktor des Höchstleistungsrechenzentrums Stuttgart. Der Text basiert auf seinem Buch „Digitalwüste Deutschland“, das in dieser Woche erscheint.