Die Teslas dieser Welt treiben deutsche Unternehmen nicht nur mit ihrer radikalen Innovation vor sich her: Wenn der US-Autohersteller ankündigt, in Berlin-Brandenburg circa 12.000 neue Stellen schaffen zu wollen, dann sollten die Chef:innen in der Industrie hierzulande noch aus einem anderen Grunde hellhörig werden. Denn uns gehen in Deutschland die Talente aus – und zwar gerade jene, die wir so dringend benötigen, um neue Geschäftsmodelle zu schaffen und unser Land zukunftsfähig zu machen. Wir müssen die „Talent Gap“ schließen. Die Ampel-Parteien machen in ihrem Koalitionsvertrag Hoffnung, dass dies gelingt.
Doch damit eine bundesweite „Talentstrategie“ auch in die entscheidende Umsetzung kommt, ist es wichtig zu verstehen, warum der Arbeitsmarkt aktuell so verrückt spielt, wie es die meisten Unternehmer:innen (und Personalberater:innen) in den vergangenen 20 Jahren nicht erlebt haben. Auf der einen Seite steigt die Nachfrage nach Führungspersönlichkeiten und Nachwuchstalenten, die sich in der digitalen Welt bestenfalls nicht nur gerade so zurechtfinden, sondern sie selbst gestalten können. Aktuell fließen Rekordsummen aus Wagniskapital und Private Equity Fonds in transformierende digitale Geschäftsmodelle. Damit deren Wachstums- und Wertsteigerungspläne aufgehen, braucht es die richtigen Leute – smarte Köpfe sind inzwischen schwerer zu bekommen als Kapital. Das gilt längst auch in der Wirtschaftsspitze: Allein an Topmanager:innen werden nach Zahlen der Boston Consulting Group in zehn Jahren mehr als 300.000 fehlen.
Denn auf der anderen Seite wird das Angebot rarer: Über alle Branchen hinweg fehlen bereits jetzt mehr als 1,2 Millionen Fach- und Führungskräfte – und allein der demographische Wandel wird diesen Trend in den kommenden fünf Jahren noch verschärfen. Zudem verfügen laut Digitalisierungsbarometer der EU-Kommission, dem Digital Economy and Society Index (DESI),immer noch nur 39 Prozent der deutschen Bevölkerung über mehr als digitale Grundkompetenzen (wir sprechen hier noch nicht von IT-Expertenwissen)und nur 32 Prozent der Unternehmen über Tech-Weiterbildungsangebote. Digitale Bildung kann also nicht über Nacht aufholen, was über Jahrzehnte versäumt wurde.
Damit wir die „Talent Gap“ erfolgreich schließen, deutsche Unternehmen Zugang zu digitalen Fachkräften und Führungspersönlichkeiten erhalten und wir so den digitalen Wandel meistern, muss Wirtschaft und Politik der Schulterschluss gelingen.
● Aus- und Weiterbildung: Die Unternehmen müssen ihr Talent Management langfristig denken, und das bedeutet: Ausbilden und langfristig in Mitarbeiter:innen investieren – selbst wenn das Risiko besteht, dass diese das Unternehmen verlassen.
● Bildung: Wir können uns die Talente, die wir in zehn bis 15 Jahren brauchen, nicht backen. Sie werden bereits jetzt durch unser Bildungssystem und unsere Erziehung beeinflusst. Was wir jetzt versäumen, lässt sich später kaum aufholen. Andersrum gilt: Was wir jetzt investieren, rentiert sich später doppelt und dreifach.
● Migration & Diversität: Wir brauchen in Deutschland Zuwanderung und müssen global nach Talenten suchen. Innovation bedeutet, dass wir uns öffnen, etwa für andere Sprachen, und stärker interkulturell austauschen.
● Brain Gain, weniger Brain Drain in der Top-Liga der Führungspersönlichkeiten mit Digital Know-how: Damit unsere Unternehmen als Arbeitgeber gegen Google, Facebook, Apple, Tesla und Co. bestehen können, müssen wir mit exzellenten englischsprachigen Studiengängen, Ausbildungs- und Förderprogrammen punkten und dabei Bürokratie-Schwellen reduzieren und Visaprozesse schnell und unkompliziert halten. Auch global wettbewerbsfähige Gehälter können ein überzeugendes Argument sein, um qualifizierte Bewerber:innen für zukunftsfähige Positionen im eigenen Unternehmen zu begeistern – idealerweise vereinfacht der Staat hier die Möglichkeit unternehmerischer Beteiligungen für Mitarbeiter:innen.
● Gleichberechtigung: Wir beobachten gerade bei gut ausgebildeten Frauen eine „Leaky Pipe“, also einen verstärkten Abgang aus dem Erwerbsleben mit zunehmender Erfahrung. Wenn wir Erziehungs- und Pflegearbeit anders verteilen, und flexible und gerechter aufgeteilte Arbeitszeitmodelle schaffen, können wir die Expertise vieler Frauen besser nutzen. Auch eine zusätzliche Förderung von Gründerinnen durch Fonds und Initiativen, die den Zugang zu Finanzmitteln und Netzwerken vereinfachen, können einen erheblichen Beitrag zur Innovationskraft unseres Landes leisten und Vorbilder schaffen, an denen sich Frauen und junge Mädchen orientieren können.
All dies gelingt nur, wenn Politik und Wirtschaft konstruktiv miteinander arbeiten. Die digitale Transformation ist – gemeinsam mit dem Klimawandel – das einschneidende Ereignis unserer Zeit. Die Zukunft unseres Landes hängt davon ab, ob die Menschen, die hier arbeiten, diese Zukunft mit der nötigen Lernbereitschaft und digitalen Schlüsselqualifikationen meistern. Die gute Nachricht: Viele Punkte im Koalitionsvertrag gehen in die richtige Richtung. Explizit genannt werden die Förderung von Frauen und die berufliche Aus-, Fort- und Weiterbildung ebenso wie die Fachkräftezuwanderung.
Martina Van Hettinga ist Managing Partnerin und Gesellschafterin des Personalberatungsunternehmens i-potentials