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Digitalisierung & KI

Standpunkte Deutschland im KI-Blindflug

Jan Schoenmakers, Geschäftsführer von Hase & Igel
Jan Schoenmakers, Geschäftsführer von Hase & Igel Foto: HASE & IGEL GmbH

Deutsche beschäftigen sich nur oberflächlich und undifferenziert mit Künstlicher Intelligenz, hat eine aktuelle Studie von Jan Schoenmakers Datenanalysefirma Hase & Igel ergeben. Gleichzeitig macht die Wirtschaft sich hierzulande immer abhängiger von Technologien aus dem Ausland, die sie weder beherrscht noch versteht. Fatal, findet Schoenmakers.

von Jan Schoenmakers

veröffentlicht am 24.07.2023

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Künstliche Intelligenz untersucht, wie die Deutschen Künstliche Intelligenz wahrnehmen – noch vor ein paar Jahren hätte das nach Science Fiction geklungen. Im Jahr 2023 hingegen provoziert es eher die Frage, was dabei herauskommt. Insbesondere, wenn dabei verschiedene Arten Künstlicher Intelligenz aufeinandertreffen. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: die KI hat Deutschland im Blindflug vorgefunden – und in immer einseitigeren Abhängigkeiten.

Doch beginnen wir von vorne: Als Geschäftsführer eines Unternehmens für KI-gestützte Analysesoftware treibt mich schon länger um, wie undifferenziert man in Deutschland über Künstliche Intelligenz spricht. Von Heilsversprechen bis zu Verbotsforderungen wird „die KI“ behandelt, als wäre es eine einheitliche Technologie – oder gar eine Person mit Eigenschaften. Dabei käme niemand auf die Idee, so über „den Strom“ oder „den Motor“ zu sprechen, der uns alle retten oder in den Untergang reißen wird.

Sind wir als Profis einfach übermäßig sensibel? Das wollten wir bei Hase & Igel herausfinden – und haben unsere eigenen Analysealgorithmen darauf angesetzt. Language Models für die qualitative Analyse und automatische statistische Modellierung für die quantitative Analyse haben seit Mai 2022 sämtliche öffentlichen Beiträge in digitalen Medien (über 700.000), die Reaktionen darauf (über 900.000) sowie alle Google-Suchen im Themenfeld (über 35 Millionen) untersucht. Ziel war es, ein neutrales Bild zu bekommen, wie die Deutschen über KI sprechen, wie sie sich zu KI informieren und was dabei die Trends sind. Die Ergebnisse haben uns nicht nur bestätigt – sondern auch erschreckt.

KI besteht aus mehr als Text- und Bildgeneratoren

Bestätigt, weil der Diskurs zu KI in der Tat ebenso eindimensional und oberflächlich ist, wie Experten es schon länger kritisieren. Künstliche Intelligenz wird als ein zentrales – vielleicht sogar das zentrale – Zukunftsthema gehandelt und mit Erwartungen von der Lösung aller Menschheitsprobleme bis zum Ende der Welt überfrachtet. Doch konkrete Nutzen und Gefahren spielen im breiteren Diskurs bisher kaum eine Rolle. Was genau man sich vom Wundertier KI verspricht und wie das funktionieren soll? Welche konkreten Risiken drohen und wie man vorbeugen kann? Hier wird es sehr schnell sehr dünn im Land.

Zumal seit dem Siegeszug von ChatGPT und Midjourney generative KI fast vollständig zum Synonym für KI als Ganzes geworden ist: nicht nur für private Anwender, sondern auch für viele Unternehmen erschöpft sich Künstliche Intelligenz darin, von Algorithmen Texte, Bilder und gelegentlich Code erstellen zu lassen oder sie für die Recherche zu verwenden (Spoiler: bitte nicht – für saubere Recherche sind diese Anwendungen nicht gemacht!). Das ist eine krasse Verengung – nicht nur hilft analytische KI seit Jahren Unternehmen, durch Monitoring und Optimierung ihrer Prozesse Milliarden-Mehrwerte zu erzielen, auch ist KI im Internet of Things nicht mehr wegzudenken und verhindert beispielsweise Zugunglücke durch Predictive Maintenance.

Geld verdienen mit Dingen, die man nicht verstehen will? Was könnte schon schiefgehen…

Die stürmische Umarmung von Open AI und Co. ist überdies erstaunlich unkritisch dafür, dass zentrale Aspekte insbesondere für Unternehmen nicht ansatzweise geklärt sind, die eigentlich jeden Unternehmer nachts wachhalten sollten: Wie viel verrate in mit meinen Prompts einem US-Unternehmen über mein Geschäft? Trainiere ich mit meinem Input Modelle, von denen dann meine Konkurrenz profitiert? Was ist mit dem Copyright für Text, Grafik und Software, die mir der Algorithmus schreibt? Wie steht es um meine Anwendungen, wenn ein Player wie Open AI über Nacht seine API schließt, seine Leistung drosselt oder den Preis vervielfacht? Wie gehe ich bei Nutzung einer Blackbox damit um, wenn ein Gericht oder Aufsichtsrat wissen möchte, wie ich zu meiner Entscheidung gekommen bin oder auf welcher Basis mein Produkt fußt? Ungeachtet dieser offenen Fragen ist einer der stärksten Trends derzeit der Aufbau von Geschäftsmodellen auf Basis von ChatGPT und Konsorten.

Größere Sorgen macht mir indes ein anderer Trend, der sich parallel zum Hype um Generative AI entwickelt hat: Das Interesse an den Technologien hinter KI ist regelrecht eingebrochen. Ob Machine Learning, Language Models, Predictive Analytics oder RPA – nicht nur im öffentlichen Diskurs sprechen alle nur noch über Prompts und Programme. Auch die Zahl der Menschen, die sich bei Google zu den Technologien informieren und fortbilden wollen, ist deutlich zurückgegangen und sinkt immer schneller. Zugespitzt: Alle wollen lernen, wie man einen Prompt formuliert, aber immer weniger Menschen wollen verstehen, wie und warum er funktioniert.

Wertschöpfung findet zunehmend woanders statt

Diese Entwicklung ist fatal – umso mehr, als sie zusammentrifft mit einem messbaren Nachfragerückgang an tieferen KI-Anwendungen in der Industrie. In der Pandemie brach hier ein jahrelanger Aufwärtstrend, Energiekrise, Inflation und drohende Rezession seit Beginn des Ukraine-Krieges lassen die Trendkurve sogar nach unten weisen. Soweit sich dies aus ihrem Informationsverhalten feststellen lässt – das sind Daten, mit denen sich Marktentwicklungen meist sehr robust vorhersagen lassen – sparen deutsche Unternehmen zunehmend bei ihrer eigenen KI-Infrastruktur im Betrieb. Dafür nutzen sie jedoch niederschwellige Cloud-Anwendungen aus den USA, die eher in Marketing oder Vertrieb anzusiedeln sind als in der primären Wertschöpfung.

Treten wir einen Schritt zurück und blicken aufs Gesamtbild: Wir sehen ein Land, das sich bei KI immer schneller im Blindflug bewegt und den Anschluss verliert, während alle meinen, sich immer mehr mit KI zu beschäftigen. Doch oberflächlich viel über KI zu sprechen und emotional, doch wenig fundiert, darüber zu diskutieren, bedeutet nicht, KI zu verstehen. Und immer intensiver die neuesten Hype-Anwendungen aus den USA zu nutzen, während man immer weniger versucht, die Funktionsweise tatsächlich zu verstehen. Dass dabei – höher investive – Anwendungen im Betrieb, die erwiesenen Mehrwerte bringen, in Zeiten knapper Kassen und aufmerksamkeitsintensiver Krisen zurückgestellt werden, verstärkt die Unwucht weiter.

Aufwachen, anpacken – sonst bleiben wir höchstens Passagier

Und so kann uns KI tatsächlich den Spiegel vorhalten zu unserem Umgang mit ihr. Das Bild ist wenig schmeichelhaft – für Deutschland. Das Land der Ingenieure und der berühmt-berüchtigten „deutschen Gründlichkeit“ macht sich immer abhängiger von Technologien, die es weder beherrscht noch versteht – und will diese auch immer weniger verstehen, weil man damit ja vielleicht einen schnellen Euro machen kann, ohne viel investieren zu müssen.

Wir müssen aus diesem Blindflug erwachen und beginnen, uns ernsthaft mit KI zu beschäftigen – auf die Art, die man uns im Ausland nachsagt: systematisch und ohne Angst vor eigener Arbeit. Und zwar schnell, nicht erst nach den nächsten fünf Kommissionen zum Thema. Denn es geht hier nicht um den Hype der Saison. Es geht um eine technologische Revolution, die mindestens vergleichbar ist mit dem Buchdruck oder der Elektrizität. Wo stünden wir heute, wenn wir uns damals auch aufs unkritische Konsumieren beschränkt hätten?

Jan Schoenmakers ist Gründer und Geschäftsführer von Hase & Igel, einem deutschen Anbieter KI-gestützter Analysesoftware. Zu den Kunden gehören unter anderem die Sparkassen-Finanzgruppe, Schaeffler und das Bundeswirtschaftsministerium. Er stammt nicht ursprünglich aus der IT-Branche, sondern hat 15 Jahre in Marketing, Kommunikation und Unternehmensberatung gearbeitet – unter anderem beim Energiekonzern EWE und dem Forschungsunternehmen Nextpractice. 

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