Standpunkte Die Entwicklungszusammenarbeit braucht dringend ein Technologie-Upgrade

Entwicklungszusammenarbeit braucht Technik. Wissen und Toolkits werden noch oft als PDFs und Downloads veröffentlicht. Aber wo sind Sprachassistenten, interaktive Modelle und intelligente Frühwarnsysteme? Semuhi Sinanoglu vom German Institute of Development and Sustainability fordert ein Technologie-Upgrade.
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Jetzt kostenfrei testenSeien wir ehrlich: Mehr Technologie in der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) ist überfällig. Noch immer hinkt der Sektor hinterher, wenn es um die Integration neuer Technologien in seine Programme geht. Das ist nicht nur eine verpasste Chance, sondern auch ein Risiko.
Gerade in einer Zeit, in der die Legitimität der Entwicklungszusammenarbeit in manchen politischen Kreisen infrage gestellt wird, sind altmodische Ansätze keine tragfähige Option mehr. Akteure in der EZ sollten vorhandenes institutionelles Wissen besser nutzen und intelligentere Wege für organisations- und sektorenübergreifende Zusammenarbeit schaffen. Auch die frühe Erkennung potenzieller Risiken muss verbessert werden. Ohne vorausschauendes Denken und die Fähigkeit, schnell zu handeln, droht Entwicklungszusammenarbeit wie ein Kaninchen vor der Schlange dazustehen. Deshalb braucht der Sektor ein Technologie-Upgrade. Zwei sofort umsetzbare Ideen:
1. KI-gestützte Toolkits für die EZ
Jedes Jahr erstellen Geberinstitutionen, internationale Organisationen und zivilgesellschaftliche Akteure im Bereich der EZ zahlreiche Toolkits. Sie unterstützen Programme zu Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, Inklusion, Digitalisierung, Medienkompetenz oder Schutz der Zivilgesellschaft. Diese Ressourcen bündeln das über Jahre hinweg aufgebaute institutionelle Wissen in klar strukturierten, schrittweisen Anleitungen. Sie helfen dabei, häufige Fallstricke zu vermeiden, bieten bewährte Rahmenkonzepte und Best Practices entlang des gesamten Projektzyklus – von der Planung über die Umsetzung bis zur Evaluation.
Leider bleiben die meisten dieser Toolkits statisch – meist als PDFs oder herunterladbare Vorlagen. Einige wenige sind interaktiver oder über Webplattformen multimedial aufbereitet. Doch das sind Ausnahmen. Die überwiegende Mehrheit ist schwer navigierbar, kaum anpassbar an unterschiedliche Kontexte und wird nach Veröffentlichung nur selten aktualisiert.
Gerade unter zunehmendem Budgetdruck sollten Akteure gezielt neue Technologien einsetzen. Es ist Zeit, statische Toolkits durch dynamische, dialogfähige, GPT-gestützte und mobil nutzbare Schnittstellen zu ersetzen.
Stellen wir uns vor, eine Programmverantwortliche muss sich nicht mehr durch Dutzende 100-seitiger Dokumente wühlen, sondern interagiert direkt mit einem KI-Assistenten, der auf einem lebenden Wissensspeicher basiert: „Ich arbeite am Schutz von Medienakteuren in einem Umfeld, in dem Menschenrechte bedroht sind. Was sind die ersten Schritte?“
Der Chatbot kann sie dann interaktiv durch Planungsschritte, Implementierungs-Checklisten, Risikoanalysen und Evaluationskriterien führen. Er kann relevante Fallstudien vorschlagen, Aktionspläne entwerfen und alles im passenden Format für Projektmanagement-Tools bereitstellen. Vor allem aber kann GPT seine Empfehlungen dynamisch anpassen – je nach Zielgruppe (Medien, Jugend, Zivilgesellschaft), Kontext (fragile oder autokratisierende Staaten), Programmdauer und Nutzerrolle (Geber, Umsetzer, Berater).
Darüber hinaus verbessert GPT auch die Zusammenarbeit zwischen Organisationen. Ein von einer anderen Agentur entwickeltes Dokument könnte in das System hochgeladen, sofort durchsuchbar und interaktiv gemacht werden – ohne das Rad neu zu erfinden oder institutionellen Jargon übersetzen zu müssen. So entstünde ein lebendiges Wissenssystem, das kontinuierlich aktualisiert und mehrsprachig zugänglich wäre.
Geberinstitutionen sollten gezielt fordern, dass solche Technologien in Förderanträgen und Programmen berücksichtigt werden. Ein gut trainierter, dialogfähiger KI-Assistent kann die Zugänglichkeit, Skalierbarkeit und Reaktionsfähigkeit von Entwicklungsprogrammen erheblich verbessern.
2. Frühwarnsysteme (EWS) für neue Bedrohungen
Geber und Praktiker sollten in Frühwarnsysteme investieren, die in der Lage sind, Diffamierungskampagnen sowie koordinierte Troll- oder Bot-Angriffe auf Entwicklungsakteure, Mitarbeitende von Hilfsorganisationen und andere relevante Akteure zu erkennen – nicht nur in digitalen und Printmedien, sondern, wo möglich, auch in Gerichtsdatenbanken oder juristischen Portalen, um gerichtliche Schikane zu identifizieren.
Solche Systeme würden helfen, auf Länderebene neue Bedrohungen frühzeitig zu erkennen und personalisierte Risikoeinschätzungen für bestimmte Organisationen oder Personen zu generieren – inklusive rechtlicher oder finanzieller Soforthilfen.
Dafür müssen sie nicht nur große englischsprachige Medienportale durchforsten, sondern auch lokale digitale Medien, aus denen Diffamierungskampagnen oft ursprünglich stammen. Gleichzeitig sollten sie mehrere soziale Medienplattformen überwachen – insbesondere jene, die für Trollaktivitäten bekannt sind.
Diese Systeme sollten nicht nur Analysten oder Gebern dienen, sondern auch den Praktikern vor Ort. Ein benutzerfreundliches Dashboard könnte das individuelle Risikoprofil visualisieren, etwa durch Echtzeit-Monitoring von Trollaktivität oder auffälligen Häufungen von Nennungen. Ein Krisenalarm sollte vor eskalierenden Bedrohungen warnen. Darüber hinaus sollte es möglich sein, über vertrauliche Kanäle rechtliche Vorladungen, Ausreiseverbote oder andere Formen gerichtlicher Schikane zu melden – zur Verifikation und kartografischen Erfassung neu aufkommender Bedrohungen.
Die EZ muss mit der Bedrohungslage Schritt halten. Technologische Innovation darf nicht länger als zukünftiger Zusatz betrachtet werden – sie muss als erste Verteidigungslinie mitgedacht, finanziert und implementiert werden.
Dr. Semuhi Sinanoglu ist Wissenschaftler am German Institute of Development and Sustainability (IDOS), Bonn.
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