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Digitalisierung & KI

Standpunkte Digitale Souveränität oder digitale Abhängigkeit? Deutsche Unternehmen am Scheideweg

Tobias Regenfuß, Technology Lead Accenture DACH
Tobias Regenfuß, Technology Lead Accenture DACH Foto: Accenture

Unternehmen müssen jetzt richtungsweisende strategische Entscheidungen treffen, wenn sie das Potenzial neuer KI-getriebener Technologien nutzen wollen, ohne noch stärker in digitale Abhängigkeit zu geraten, sagt Tobias Regenfuß, Technology Lead für die DACH-Region bei Accenture. Sie müssen ihre Daten zentral bereitstellen, offene Standards fokussieren und in organisatorischen Umbau und Kompetenzgewinn investieren.

von Tobias Regenfuß

veröffentlicht am 01.04.2025

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Die digitale Transformation tritt in eine entscheidende Phase. Mit dem Aufkommen leistungsfähiger KI-Systeme stehen deutsche Unternehmen vor einer historischen Weichenstellung: Entweder sie nutzen die Chancen der nächsten Digitalisierungswelle proaktiv und wahren dabei ihre digitale Souveränität – oder sie riskieren, in ihrer Wettbewerbsfähigkeit zurückzufallen oder durch falsche Technologie-Entscheidungen in dauerhafte Abhängigkeiten zu geraten.

Die Situation ist eindeutig: IT ist nicht mehr nur Unterstützung, sondern Kernelement jeder Unternehmensstrategie. Das zeigt sich branchenübergreifend: Hersteller von Industrieanlagen werden ohne digitale Zwillinge ihrer Anlagen nicht konkurrenzfähig sein. Software sticht das Spaltmaß bei Fahrzeugen aus und Kunden treffen ihre Kaufentscheidung zunehmend auf Basis digitaler Features. Biontech hat mit digitaler Modellierung und KI-gestützter Forschung die Impfstoffentwicklung von Jahren auf Monate verkürzt – ein Durchbruch, der ohne Digitalisierung undenkbar gewesen wäre. Die Bedeutung von Daten für die Kundenansprache, die Produktentwicklung und interne Prozesse ist immens – und nun durchdringt Künstliche Intelligenz mit beispielloser Geschwindigkeit jeden Geschäftsbereich, ob globaler Konzern oder regionaler Mittelständler.

Potential für europäische Wertschöpfung nutzen

Agile Start-ups und „Cloud Native“-Unternehmen wie Klarna oder Biontech zeigen das Potenzial neuer Technologien. Sie setzen Maßstäbe bei Effizienz und Innovation. Traditionelle Unternehmen stehen vor der Herausforderung, Technologie, Daten und KI strategisch zu nutzen. Eine Bitkom-Studie zeigt eine Lücke: Über 50 Prozent der deutschen Unternehmen hat sich noch nicht mit generativer KI beschäftigt oder hält sie für irrelevant. Das ist angesichts der rasanten technologischen Entwicklung ein gefährlicher Trugschluss.

Gleichzeitig steht die Frage der digitalen Souveränität im Zentrum strategischer Überlegungen – und damit der Zukunft des europäischen Wirtschaftsraums. Wie können wir verhindern, dass der Großteil der Wertschöpfung bei amerikanischen Tech-Giganten landet, die gerne „per use“ abrechnen und damit direkt an jedem Wachstum partizipieren? Wie behalten europäische Unternehmen die Kontrolle über ihre Daten als zentrales Element ihrer Differenzierung? Die zunehmenden geopolitischen Risiken, von Handelskonflikten bis hin zu regionalen Krisen, verstärken den Druck in Richtung höherer digitaler Souveränität. Der Aufbau eigenständiger „europäisch“ gedachter digitaler Infrastrukturen und Werkzeuge wird damit zur strategischen Notwendigkeit für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland.

Was bedeutet das für die Zukunft? Drei zentrale Thesen zeichnen sich ab:

  1. KI ist kein IT-Thema. Sie wird zum zentralen Element jeder Geschäftsfunktion und findet Einzug in sämtliche Unternehmensbereiche. Wir stehen erst am Anfang einer exponentiellen Entwicklungskurve, aber die Weichen werden jetzt gestellt.
  2. Zweitens: Die unternehmenseigenen Daten werden zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil der Zukunft – und das gleich doppelt im Zeitalter der KI. Während generelle KI-Modelle wie ChatGPT über die Zeit austauschbar werden, macht die intelligente Nutzung der unternehmenseigenen Daten in Kombination mit den LLMs den entscheidenden Unterschied.
  3. Drittens: Die Qualifikation der Mitarbeiter wird zum kritischen Erfolgsfaktor. Der Wandel vom prozessgetriebenen zum datengetriebenen Unternehmen erfordert neue Kompetenzen und Arbeitsweisen auf allen Ebenen.

Was müssen Unternehmen jetzt konkret tun? Die Antwort liegt in vier sich ergänzenden Handlungsfeldern:

  1. Etablierung eines digitalen Kerns. Der digitale Kern ist das technologische Rückgrat des Unternehmens – die Summe aller digitalen Fähigkeiten, die das Unternehmen befähigen, schnell auf Marktanforderungen zu reagieren und neue Geschäftsmodelle zu realisieren. Ein cloudbasiertes Fundament ist dafür unerlässlich. Dazu müssen die Unternehmensdaten in hoher Qualität zentral bereitgestellt werden. Gerade hier besteht deutlicher Handlungsbedarf: Aktuell berichten mehr als 60 Prozent der Unternehmen, dass ihre Datenbestände noch nicht KI-tauglich sind. Darüber hinaus muss die Unternehmens-IT der Zukunft in einzelnen modularen Geschäftsfunktionen abgebildet sein, die sich dynamisch kombinieren lassen. Eine zentrale KI- und Automations-Plattform orchestriert dabei den Geschäftsablauf.
  2. Digitale Souveränität als Design-Prinzip. Unternehmen müssen sich Handlungsoptionen in jeder Schicht ihres digitalen Kerns sichern, wo strategische Abhängigkeiten entstehen können. Besonders wichtig ist das systematische Management der Datenflüsse. Unternehmen müssen genau verstehen, wo und wie eigene und fremde Daten genutzt werden, potenzielle Risiken identifizieren und diese durch geeignete technische oder organisatorische Maßnahmen minimieren. Beim Aufbau des digitalen Kerns muss der Fokus auf offenen Standards und Austauschbarkeit liegen – auch für die großen Sprachmodelle gibt es Open-Source-Alternativen. Dies kann durch gezielt eingesetzte proprietäre Technologien ergänzt werden, wo diese einen klaren strategischen Vorteil liefern. Auch nationale und europäische Anbieter wie Mistral, Stackit oder Aleph Alpha verdienen beim Bau des digitalen Kerns eine faire Chance. Resilienz und Cybersicherheit sind weitere wesentliche Gestaltungsprinzipien für den digitalen Kern der Zukunft.
  3. Vertrauenswürdigkeit als Fundament. KI-Systeme müssen neben dem verantwortungsvollen Einsatz präzise, vorhersehbar, konsistent und nachvollziehbar arbeiten. Nur wenn Mitarbeiter, Kunden und Regulierungsbehörden der KI vertrauen, kann die Zusammenarbeit von Menschen und KI erfolgreich sein und das volle Potenzial auch tatsächlich realisiert werden. Parallel zur technologischen Weiterentwicklung ist daher die Erarbeitung konkreter Strategien für den vertrauenswürdigen Einsatz dieser Technologie ein wesentliches Handlungsfeld. Der EU AI Act unterstützt europäische Unternehmen hierbei. Doch Zögern ist nicht angesagt – nur wenn Unternehmen KI aktiv einsetzen, Erfahrungen sammeln und kontinuierlich lernen, können sie vertrauenswürdigen Einsatz lernen und das volle Potenzial autonomer Systeme ausschöpfen.
  4. Transformation der Organisation. Der technische Umbau muss mit der organisatorischen Veränderung einhergehen. Letztendlich sind es die Menschen, die den Unterschied machen. Die Geschäftsführung muss zunächst eine Vision entwickeln, wie die Organisation aussehen wird, wenn neue IT-Werkzeuge und KI-Agenten Teil der Belegschaft werden. Investitionen in Training und Weiterbildung sind unerlässlich – Technologieverständnis wird für jeden Fachbereich relevant. Ein Beispiel verdeutlicht dies: Ein mittelständischer Maschinenbauer nutzt KI-Systeme, um Wartungszyklen vorherzusagen und die Produktionseffizienz zu optimieren – Kompetenzen, die früher nicht zum Kerngeschäft gehörten. Mittelständische Unternehmen können von schlanken Strukturen profitieren und Veränderungen schneller umsetzen als Großkonzerne. Festgefahrene Arbeitsweisen müssen aufgebrochen werden: Agiles Vorgehen, datengetriebenes Denken und der Umgang mit KI-Assistenten werden zum Standard. Noch haben 64 Prozent der Unternehmen Schwierigkeiten, ihre Arbeitsweisen anzupassen.

Die Zeit drängt. Wer jetzt nicht handelt, riskiert den Anschluss zu verlieren, oder in dauerhafte digitale Abhängigkeiten zu geraten. Der Weg zur digitalen Souveränität führt über mutige Entscheidungen und konsequentes Handeln. Die Technologie und die digitalen Werkzeuge sind verfügbar – jetzt liegt es an den Unternehmen, diese Chance zu nutzen.

Tobias Regenfuß ist ist als leitender Technologiemanager für die DACH-Region bei Accenture tätig.

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