Die Digitalisierung der Schulen wurde von niemandem gewollt. Kinder sollten nicht zu früh elektronischen Medien und ihren Gefahren ausgesetzt werden. Tools wie algorithmisch gesteuertes Lernen – ein Ansatz, der seit den 1960er Jahren verfolgt wird und die Lerninhalte abhängig vom Lernerfolg strukturiert –, würden zudem einem festgelegten, synchronen Curriculum zuwiderlaufen. Und überhaupt, die Idee, dass man in der digitalen Welt, „alles lernen könnte, was man möchte und wann man es möchte“ (Isaac Asimov), widersprach einem Schulsystem, das die Lernenden recht früh segregiert und für unterschiedliche Laufbahnen vorsieht.
Lernen fürs Leben, ein Leben lang
Dies mag erklären, warum die bisherigen Ansätze zur digitalen Transformation der Schulen von überschaubarem Erfolg gekrönt sind. Man kann bezweifeln, ob es überhaupt wesentliche Fortschritte gegeben hätte, wenn nicht die Pandemie zugeschlagen und die Schulen zu wahren Kraftanstrengungen in Sachen Digitalisierung gezwungen hätte. Und dies, obwohl wir längst wissen, dass sich der „Lernpfad“ in einer digitalen Wirtschaft und Gesellschaft für alle massiv ändern wird. Lernende begeben sich von nun an auf einen lebenslangen Weg, der sich aus mehreren Komponenten zusammensetzt: Einerseits Lehrinhalte, die „klassisch“ in Präsenz vermittelt werden. Aber eben auch digitale Lerninhalte sowie die Möglichkeit, erworbenes Wissen im Rahmen von virtuell vermittelten und umgesetzten Praxisprojekten anzuwenden. Die letzteren beiden Komponenten werden von den Nutzer:innen mitentwickelt, kuratiert und ständig verbessert. Zentral ist dabei eine medial angebundenen Community, die für alle Fragen der Lernenden erste Anlaufstelle ist und das gesamte Lern-Leben begleiten kann.
Digitales Lernen findet vor allem selbstorganisiert schon statt
Diese späte Erkenntnis bedeutet nicht, dass Digitalisierung der Schule bisher überhaupt nicht stattfand. Im Gegenteil, in jeder Schule gibt es offene und neugierige Lehrende, die digitale Formate und Lernstrecken ausprobierten und entwickeln. Längst gibt es in den meisten Klassen Chatgruppen, die von den Schüler:innen selbständig organisiert werden, in denen Hausaufgaben gemeinsam gelöst, Projekte geplant und besprochen werden. Oft sind diese digitalen selbstgesteuerten Communities und die von den Schüler:innen verwendeten digitalen Lerninhalte den Lehrenden unbekannt und existieren somit in einer informellen Koexistenz zum Schulsystem. Also auch parallel zu den formellen Plattformen und Strukturen, die zuletzt eingerichtet wurden, um Lerninhalte hochzuladen und Lerngruppen einzuteilen.
Digitalisierung an den Nutzenden vorbei?
Es gibt neben den individuellen Schulprojekten natürlich digitale Projekte auf Landesebene, wie Plattformen für die Lehrinhalte, und Plattformen, welche Lehrenden und Lernenden einen sicheren Informationsaustausch und virtuelles Lernen ermöglichen sollen. So richtig und wichtig diese Ansätze sind, sie gehen meist nicht weit genug und sie haben ein grundsätzliches Problem: Die betroffenen Lehrenden und Lernenden, sowie die Schulen, werden nicht im ausreichenden Maße involviert, um Lernprodukte zu verbessern oder gar selbst zu entwickeln. Nur durch die Involvierung der Nutzer:innen – so ein Kernparadigma der Digitalisierung – können gute Inhalte entwickelt und zudem fortwährend verbessert werden. Nur so verhindert man, dass die Plattform den Status Quo konserviert und mehr ist, als ein Ort für das Abspeichern von vormaligen Präsenzvorträgen. Das vom BMBF vorgeschlagene Projekt eines „Digitalen Bildungsraums“ als eine Metaplattform ist deshalb ausdrücklich zu begrüßen und geht von der Zielsetzung her in die richtige Richtung, wenngleich die Lehrenden und Lernenden hier nicht explizit als Produzenten von Lernprodukten erscheinen.
Die bisherige Vorgehensweise jedenfalls ist eine Vergeudung von Ressourcen, von unzähligen wertvollen Erfahrungen, die jeder Lehrende und Lernende individuell macht – die aber nicht konsolidiert und an andere Nutzer:innen weitergegeben werden. Dies bedeutet auch, dass die Verbindung zwischen didaktischen Ansätzen und digitalen Tools noch zu selten diskutiert und ausgeschöpft wird. So basiert die in vielen Schulen verwendete Anton-Lernapp auf einem durchaus kompetitiven Lernverständnis. Lehren und Lernen könnten aber genauso in einem Dialog organisiert und ebenfalls digital unterstützt werden (etwa mit Chats, Etherpads und Office-Systemen). Erfahrungen sind zudem essentiell, weil sie Grundlage für eine Diskussion darüber sind, festzulegen, welche Tools wo funktionieren und wo nicht. So zeigt sich, dass etwa algorithmisches Lernen vor allem im Anwendungsbereich der Mathematik positive Effekte erzielen kann.
Für ein neues Miteinander von digitaler Schulpolitik und Schulen
In der deutschen föderalen Struktur müssen dezentral gemachte Erfahrungen und produzierte Inhalte nutzbar gemacht werden. Da ist es wenig verständlich, warum Schulen und ihre Mitglieder (inkl. Lernenden) nicht intensiver in den Entwicklungsprozess einer nationalen oder landesspezifischen digitalen Schulplattform involviert werden. Ein neuer Veränderungsansatz könnte deshalb auf einer produktiven Arbeitsverteilung zwischen Schulpolitik einerseits und den Schulen andererseits beruhen.
Die Bildungspolitik könnte Plattformen wie den „Digitalen Bildungsraum“ bauen, welche Infrastruktur aber vor allem Lerninhalte, Projektdokumentationen, Lern-Communities und prototypische didaktische Lernpfade zum Download beziehungsweise andocken anbietet. Die Plattforminhalte wiederum werden vor allem auch von Lehrenden und Lernenden entwickelt, kuratiert und hochgeladen und so zur allgemeinen Nutzung freigeben. Diese Inhalte können von allen Plattformnutzer:innen kommentiert und stetig verbessert bzw. „akkreditiert“ werden (Netzwerkeffekt). Die Mitarbeit an diesen Inhalten könnte vor allem freiwillig, gemäß den Schwerpunkten und Erfahrungen der Institutionen und Individuen funktionieren (Schulen fokussieren sich zum Beispiel auf die Erstellung bestimmter „best of“-Lerninhalte, die ihre Schwerpunkte darstellen). So könnten relativ schnell und effizient umfangreiche Erfahrungen und Lerninhalte nutzbar gemacht und den Beteiligten zudem wichtiges digitale Wissen vermittelt werden. Nur ein Transformationsprozess also, der selbst die Paradigmen der digitalen Kooperation und des digitalen Lernens berücksichtigt, kann erfolgreich sein.
Prof. Dr. Dr. Ayad Al-Ani ist außerordentlicher Professor an der School of Public Leadership der Universität Stellenbosch, Südafrika, Lehrbeauftragter an der Universität Basel und assoziiertes Mitglied des Einstein Zentrums Digitale Zukunft in Berlin. Er hat über 20 Jahre Erfahrung bei internationalen Beratungsunternehmen unter anderem als Executive Partner bei Accenture. Zuletzt war er Rektor und Professor an der ESCP Europe Wirtschaftshochschule Berlin.