Im Nachgang der Corona-Krise werden wir harte Diskussionen darüber geführt werden, wer auf Grundlage welcher Informationen richtig und wer falsch entschieden und gehandelt hat. Wir sollten uns grundsätzlich vor vorschnellen Urteilen hüten, aber umso schneller neue Evidenz und Lernerfahrungen in intelligentes Verhalten übersetzen. Bezogen auf die intelligente Nutzung von Daten, Statistik und aus Daten lernenden Systemen lautet ein wichtiger erster Hinweis: Bezogen auf die wichtigen Fragen zur Bekämpfung des Corona-Virus leben wir auch in Zeiten von Big Data in bitterer Datenarmut.
Covid-19 ist ein Worst-Case-Fall für datenbasierte Entscheidungsfindung. Die ungewöhnlich lange Inkubationszeit des Virus führt dazu, dass infizierte Menschen unerfasst ihrem Alltag nachgehen und dabei viele andere anstecken. Die Corona-Symptome sind zu mehrdeutig, zu viele Infizierte entwickeln gar keine Symptome, als dass man durch einfache Diagnostik das Gros der Fälle erfassen könnte, oder gar durch eine KI-getriebene App. Covid-19-Tests wurden zwar in Rekordzeit entwickelt, doch die Rekordzeit war dennoch zu lang, um den Blindflug der Gesundheitsbehörden ohne gesicherte Infektionsdaten rechtzeitig zu beenden. Bis Anfang April war zudem die Verfügbarkeit von Tests zu gering, sodass in keinem Land statistisch repräsentativ getestet wurde, also ausreichend viele Zufallsproben quer durch die Bevölkerung, inklusive Antikörpertests der bereits Immunen vorlagen. Doch nur so hätten Wissenschaftler, Ärzte und Politiker einen echten Überblick über den Gesundheitszustand im Land gehabt.
Die entscheidende Lehre lautet: In künftigen Krisen werden
Gesundheitspolitiker hoffentlich früher erkennen, welche Informationen
Datenwissenschaftler brauchen, um ihre Modelle sinnvoll zu füttern, und mit
welchen Maßnahmen sie früher die notwendigen Daten erzeugen können.
Der Kampf wird in der Petrischale geschlagen
Auch bei der Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen ist klar erkennbar: Den Unterschied macht nicht die angebliche Wunderwaffe KI, sondern das Wissen und Handwerk der Pharmakologen. Maschinelles Lernen hat hier eine wichtige unterstützende Funktion, zum Beispiel bei der Suche nach bereits bekannten Wirkstoffen, die gegen neue Viren helfen könnten. Experten schauen da mitunter zu stark auf die üblichen Verdächtigen. Intelligente Suche mit intelligenten Filtern kann sie auf neue Gedanken bringen. Simulationen mit Modellen von Enzymreaktionen können hier und da Entwicklungszeit einsparen. DNA-Analytik ist ohne Algorithmen nicht möglich. Doch die Schlacht gegen Covid-19 und seine Nachfolger entscheidet sich nicht in einem künstlichen neuronalen Netz, sondern in der Petrischale.
Informationstechnische Lösungen können uns im Kampf
gegen das Virus zwar unterstützen. Aber die soziale Technik der sozialen
Distanzierung ist das effektivste Mittel, das wir zur Verfügung haben. Social
Distancing zur (notdürftigen) Abflachung der Infektionskurve wurde notwendig, weil
die meisten Länder der Welt das Brot-und-Butter-Geschäft der Seuchenbekämpfung in
der Eindämmungsphase nicht beherrschten. Die digitale Diktatur China mag durch
radikale Maßnahmen in Hubei zu einem verhältnismäßig späten Zeitpunkt das
Allerschlimmste im eigenen Land verhindert haben. Doch das Rollenbild für die
Zukunft der Seuchenbekämpfung ist die Demokratie von Taiwan.
Das Land hatte seine Lehren aus der SARS-Epidemie 2003 gezogen. Bereits am 31. Dezember 2019 kontrollierten Ärzte Fluggäste aus Wuhan auf Grippesymptome, bevor diese das Flugzeug verlassen durften. Ab 5. Januar wurde gezielt nach Menschen gesucht, die mit Menschen Kontakt hatten, die zuvor in Wuhan waren. Die Bürger unterstützen die Gesundheitsbehörde vorbildlich. Masken wurden nicht gehamstert, sondern getragen. Social Distancing war selbstverständlich, auf die Idee zu Corona-Partys kam dort im Unterschied zu jungen Menschen in Miami, London und Berlin niemand. Auch in Taiwan waren Tracing-Apps im Einsatz. Vielleicht haben sie auch geholfen. Wir müssen auf Evidenz hierzu warten, daraus dann die richtigen Schlüsse ziehen und digitale Technologie intelligenter als zusätzliche Stütze klassischer Seuchenhygiene einsetzen. Eine Wunderwaffe sind sie kaum.
Wie Systemresilienz erhöht werden kann
Wir werden in den kommenden Monaten und Jahren nicht
nur viele Schuldzuweisungen sehen, sondern auch sehr viel über Resilienz
diskutieren. Wie können wir sicherstellen, dass uns die nächste Krise nicht so
hart trifft? Dass wir auf bekannte Risiken besser vorbereitet sind und früher
intelligenter auf die ersten Einschläge reagieren, um destruktive
Kettenreaktionen rechtzeitig zu unterbinden? Wie können wir die
wirtschaftlichen und sozialen Folgeschäden kleiner halten?
Es wird zum einen viele Unternehmen geben, die uns
technische Resilienz-Lösungen verkaufen wollen. Auf vielen dieser Angebote wird
das Label „Künstliche Intelligenz” kleben, oft verknüpft mit dem Versprechen
auf bessere Prognosen für bessere Entscheidungen. Wir werden genau prüfen
müssen, welche dieser Angebote tatsächlich Mehrwert bringen. Zum anderen werden
auch im Westen viele dem chinesischen Narrativ folgen, dass autoritäre Systeme
mit ihren Durchgriffs- und Steuerungsmöglichkeiten für Krisen besser gewappnet
sind. Beide Resilienz-Angebote ergänzen sich scheinbar perfekt. Die digitale
Diktatur hat alles im Griff, je mehr Daten, je mehr Überwachung, desto fester.
Die Angst vor der nächsten Krise im Nacken, die Folgen der Corona-Krise auf den
Schultern, wird vielen dieses Paket attraktiv erscheinen. Sie sollten etwas
genauer hinschauen.
Aus Daten lernende Systeme sind immer dann besonders
hilfreich, wenn sie Lerndaten aus ähnlichen Situationen zur Verfügung haben.
Zum Wesen der großen Krise gehört aber, dass wir es mit einer weitgehend
unbekannten Situation zu tun haben. In der herrscht für die großen Fragen, die
es unter hohem Zeitdruck zu klären gibt, strukturell ein Mangel an Daten. Erst
wenn wir dies verstanden haben, werden wir digitale Tools als das einsetzen,
wofür sie taugen: menschliche Intelligenz zu verstärken und sozial sinnvolle
Maßnahmen effektiv umzusetzen. Mithilfe dieser Werkzeuge müssen wir Menschen
mit Corona-Verdacht nicht zum Arzt ins Wartezimmer schicken, sondern können per
Telemedizin entscheiden, ob eine Speichelprobe eingeschickt werden sollte. Wir
können lindernde Medikamente per Online-Apotheke senden, ein Fitnessband zur
medizinischen Kontrolle nutzen und ein Arzt kann im Notfall online die
Einweisung in ein geeignetes Krankenhaus verfügen, das seine Kapazitäten in
Echtzeit an ein zentrales System meldet. Den Unterschied macht dabei nicht die
Künstliche Intelligenz, sondern die digitale Kompetenz beim Einsatz der
Tools.
Zum Zweiten kann uns Bürger der liberalen Demokratien
der Resilienz-Systemvergleich mit Taiwan und China ermutigen, viel besser zu
werden, dabei aber nicht unsere bürgerlichen Grundrechte vollends über Bord zu
werfen. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari schreibt in
einem Gastbeitrag in der britischen Financial Times: “When people are
told the scientific facts, and when people trust public authorities to tell
them these facts, citizens can do the right thing even without a Big Brother
watching over their shoulders. A self-motivated and well-informed population is
usually far more powerful and effective than a policed, ignorant population.” Dies wird auch für künftige
Krisen gelten, in der die intellektuelle Brillanz Einzelner und kollektiv
vernünftiges Handeln aller Bürger auf der Grundlage wissenschaftlicher Evidenz
gefragt ist.
Künstliche Intelligenz wird uns dabei weder das Denken
abnehmen, noch das sozial richtige Verhalten vorgeben können. Resilienz erhöhen
wir durch Vernunft. Wir werden sie brauchen, nicht nur für neue Viren, sondern
für die Folgen des Klimawandels, neue Migrationswellen, geo- und
innenpolitische Konflikte und wirtschaftliche Zusammenbrüche. Kurzum, wir
werden sie brauchen für alle Folgeerscheinungen menschlicher Unvernunft, die
immer neue Krisen schafft.
Thomas Ramge ist
Research Fellow am Weizenbaum Institut in Berlin. Er ist Autor
zahlreicher Bücher zu Daten, Künstlicher Intelligenz und datengestützter
Entscheidungsfindung. Gerade erschien im Murmann Verlag sein neues Buch: „postdigital – Wie wir künstliche
Intelligenz schlauer machen, ohne uns von ihr bevormunden zu lassen“. Das E-Book enthält ein
aktualisiertes Vorwort zur Corona-Krise.