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Digitalisierung & KI

Standpunkte KI, Corona und die Datenarmut

Thomas Ramge, Autor und Research Fellow am Weizenbaum Institut
Thomas Ramge, Autor und Research Fellow am Weizenbaum Institut Foto: Peter van Heesen

Covid-19 ist der Worst-Case-Fall für datenbasierte Entscheidungsfindung, sagt der Autor Thomas Ramge. Die Schlacht gegen das Virus entscheidet sich daher auch nicht in einem künstlichen neuronalen Netz, sondern in der Petrischale. Trotzdem kann man digitale Technologie intelligent als zusätzliche Stütze klassischer Seuchenhygiene einsetzen.

von Thomas Ramge

veröffentlicht am 15.04.2020

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Im Nachgang der Corona-Krise werden wir harte Diskussionen darüber geführt werden, wer auf Grundlage welcher Informationen richtig und wer falsch entschieden und gehandelt hat. Wir sollten uns grundsätzlich vor vorschnellen Urteilen hüten, aber umso schneller neue Evidenz und Lernerfahrungen in intelligentes Verhalten übersetzen. Bezogen auf die intelligente Nutzung von Daten, Statistik und aus Daten lernenden Systemen lautet ein wichtiger erster Hinweis: Bezogen auf die wichtigen Fragen zur Bekämpfung des Corona-Virus leben wir auch in Zeiten von Big Data in bitterer Datenarmut.

Covid-19 ist ein Worst-Case-Fall für datenbasierte Entscheidungsfindung. Die ungewöhnlich lange Inkubationszeit des Virus führt dazu, dass infizierte Menschen unerfasst ihrem Alltag nachgehen und dabei viele andere anstecken. Die Corona-Symptome sind zu mehrdeutig, zu viele Infizierte entwickeln gar keine Symptome, als dass man durch einfache Diagnostik das Gros der Fälle erfassen könnte, oder gar durch eine KI-getriebene App. Covid-19-Tests wurden zwar in Rekordzeit entwickelt, doch die Rekordzeit war dennoch zu lang, um den Blindflug der Gesundheitsbehörden ohne gesicherte Infektionsdaten rechtzeitig zu beenden. Bis Anfang April war zudem die Verfügbarkeit von Tests zu gering, sodass in keinem Land statistisch repräsentativ getestet wurde, also ausreichend viele Zufallsproben quer durch die Bevölkerung, inklusive Antikörpertests der bereits Immunen vorlagen. Doch nur so hätten Wissenschaftler, Ärzte und Politiker einen echten Überblick über den Gesundheitszustand im Land gehabt.

Die entscheidende Lehre lautet: In künftigen Krisen werden Gesundheitspolitiker hoffentlich früher erkennen, welche Informationen Datenwissenschaftler brauchen, um ihre Modelle sinnvoll zu füttern, und mit welchen Maßnahmen sie früher die notwendigen Daten erzeugen können.

Der Kampf wird in der Petrischale geschlagen

Auch bei der Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen ist klar erkennbar: Den Unterschied macht nicht die angebliche Wunderwaffe KI, sondern das Wissen und Handwerk der Pharmakologen. Maschinelles Lernen hat hier eine wichtige unterstützende Funktion, zum Beispiel bei der Suche nach bereits bekannten Wirkstoffen, die gegen neue Viren helfen könnten. Experten schauen da mitunter zu stark auf die üblichen Verdächtigen. Intelligente Suche mit intelligenten Filtern kann sie auf neue Gedanken bringen. Simulationen mit Modellen von Enzymreaktionen können hier und da Entwicklungszeit einsparen. DNA-Analytik ist ohne Algorithmen nicht möglich.  Doch die Schlacht gegen Covid-19 und seine Nachfolger entscheidet sich nicht in einem künstlichen neuronalen Netz, sondern in der Petrischale.

Informationstechnische Lösungen können uns im Kampf gegen das Virus zwar unterstützen. Aber die soziale Technik der sozialen Distanzierung ist das effektivste Mittel, das wir zur Verfügung haben. Social Distancing zur (notdürftigen) Abflachung der Infektionskurve wurde notwendig, weil die meisten Länder der Welt das Brot-und-Butter-Geschäft der Seuchenbekämpfung in der Eindämmungsphase nicht beherrschten. Die digitale Diktatur China mag durch radikale Maßnahmen in Hubei zu einem verhältnismäßig späten Zeitpunkt das Allerschlimmste im eigenen Land verhindert haben. Doch das Rollenbild für die Zukunft der Seuchenbekämpfung ist die Demokratie von Taiwan.

Das Land hatte seine Lehren aus der SARS-Epidemie 2003 gezogen. Bereits am 31. Dezember 2019 kontrollierten Ärzte Fluggäste aus Wuhan auf Grippesymptome, bevor diese das Flugzeug verlassen durften. Ab 5. Januar wurde gezielt nach Menschen gesucht, die mit Menschen Kontakt hatten, die zuvor in Wuhan waren. Die Bürger unterstützen die Gesundheitsbehörde vorbildlich. Masken wurden nicht gehamstert, sondern getragen. Social Distancing war selbstverständlich, auf die Idee zu Corona-Partys kam dort im Unterschied zu jungen Menschen in Miami, London und Berlin niemand. Auch in Taiwan waren Tracing-Apps im Einsatz. Vielleicht haben sie auch geholfen. Wir müssen auf Evidenz hierzu warten, daraus dann die richtigen Schlüsse ziehen und digitale Technologie intelligenter als zusätzliche Stütze klassischer Seuchenhygiene einsetzen. Eine Wunderwaffe sind sie kaum.

Wie Systemresilienz erhöht werden kann

Wir werden in den kommenden Monaten und Jahren nicht nur viele Schuldzuweisungen sehen, sondern auch sehr viel über Resilienz diskutieren. Wie können wir sicherstellen, dass uns die nächste Krise nicht so hart trifft? Dass wir auf bekannte Risiken besser vorbereitet sind und früher intelligenter auf die ersten Einschläge reagieren, um destruktive Kettenreaktionen rechtzeitig zu unterbinden? Wie können wir die wirtschaftlichen und sozialen Folgeschäden kleiner halten?

Es wird zum einen viele Unternehmen geben, die uns technische Resilienz-Lösungen verkaufen wollen. Auf vielen dieser Angebote wird das Label „Künstliche Intelligenz” kleben, oft verknüpft mit dem Versprechen auf bessere Prognosen für bessere Entscheidungen. Wir werden genau prüfen müssen, welche dieser Angebote tatsächlich Mehrwert bringen. Zum anderen werden auch im Westen viele dem chinesischen Narrativ folgen, dass autoritäre Systeme mit ihren Durchgriffs- und Steuerungsmöglichkeiten für Krisen besser gewappnet sind. Beide Resilienz-Angebote ergänzen sich scheinbar perfekt. Die digitale Diktatur hat alles im Griff, je mehr Daten, je mehr Überwachung, desto fester. Die Angst vor der nächsten Krise im Nacken, die Folgen der Corona-Krise auf den Schultern, wird vielen dieses Paket attraktiv erscheinen. Sie sollten etwas genauer hinschauen.

Aus Daten lernende Systeme sind immer dann besonders hilfreich, wenn sie Lerndaten aus ähnlichen Situationen zur Verfügung haben. Zum Wesen der großen Krise gehört aber, dass wir es mit einer weitgehend unbekannten Situation zu tun haben. In der herrscht für die großen Fragen, die es unter hohem Zeitdruck zu klären gibt, strukturell ein Mangel an Daten. Erst wenn wir dies verstanden haben, werden wir digitale Tools als das einsetzen, wofür sie taugen: menschliche Intelligenz zu verstärken und sozial sinnvolle Maßnahmen effektiv umzusetzen. Mithilfe dieser Werkzeuge müssen wir Menschen mit Corona-Verdacht nicht zum Arzt ins Wartezimmer schicken, sondern können per Telemedizin entscheiden, ob eine Speichelprobe eingeschickt werden sollte. Wir können lindernde Medikamente per Online-Apotheke senden, ein Fitnessband zur medizinischen Kontrolle nutzen und ein Arzt kann im Notfall online die Einweisung in ein geeignetes Krankenhaus verfügen, das seine Kapazitäten in Echtzeit an ein zentrales System meldet. Den Unterschied macht dabei nicht die Künstliche Intelligenz, sondern die digitale Kompetenz beim Einsatz der Tools.   

Zum Zweiten kann uns Bürger der liberalen Demokratien der Resilienz-Systemvergleich mit Taiwan und China ermutigen, viel besser zu werden, dabei aber nicht unsere bürgerlichen Grundrechte vollends über Bord zu werfen. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari schreibt in einem Gastbeitrag in der britischen Financial Times: “When people are told the scientific facts, and when people trust public authorities to tell them these facts, citizens can do the right thing even without a Big Brother watching over their shoulders. A self-motivated and well-informed population is usually far more powerful and effective than a policed, ignorant population.” Dies wird auch für künftige Krisen gelten, in der die intellektuelle Brillanz Einzelner und kollektiv vernünftiges Handeln aller Bürger auf der Grundlage wissenschaftlicher Evidenz gefragt ist.

Künstliche Intelligenz wird uns dabei weder das Denken abnehmen, noch das sozial richtige Verhalten vorgeben können. Resilienz erhöhen wir durch Vernunft. Wir werden sie brauchen, nicht nur für neue Viren, sondern für die Folgen des Klimawandels, neue Migrationswellen, geo- und innenpolitische Konflikte und wirtschaftliche Zusammenbrüche. Kurzum, wir werden sie brauchen für alle Folgeerscheinungen menschlicher Unvernunft, die immer neue Krisen schafft.

Thomas Ramge ist Research Fellow am Weizenbaum Institut in Berlin. Er ist Autor zahlreicher Bücher zu Daten, Künstlicher Intelligenz und datengestützter Entscheidungsfindung. Gerade erschien im Murmann Verlag sein neues Buch: „postdigital – Wie wir künstliche Intelligenz schlauer machen, ohne uns von ihr bevormunden zu lassen“. Das E-Book enthält ein aktualisiertes Vorwort zur Corona-Krise.

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