Die Corona-Krise ist ein Stresstest für unser Bildungssystem. Das Beste daran: Engagierte Lehrkräfte und Eltern setzen unter widrigsten Bedingungen den Bildungsauftrag der Schulen um. Doch er zeigt auch, dass die Bildungsrepublik Deutschland die digitale Transformation ihrer Schulen sträflich vernachlässigt hat. Spätestens jetzt sollte allen klar sein: Abwarten und Gerede vom „Neuland“ sind nicht mehr angemessen. Im Gegenteil: Die Macht, die von der Digitalisierung ausgeht und die Verantwortung, die das Bildungssystem hat, müssen endlich in Einklang gebracht werden. Dafür hat sich ein einmaliges Bündnis aus Schulpraxis, Wissenschaft, Wirtschaft und der Zivilgesellschaft für eine „Offensive Digitale Schultransformation“ formiert. Sie stellt sieben Handlungsempfehlungen vor, damit endlich auch Schulen den Sprung ins digitale Zeitalter schaffen.
Digitale Bildung und Ausstattung für Lehrkräfte verbessern
Digitalisierung verändert die Gesellschaft – ob wir das wollen oder nicht. Viele Bildungsbürgerinnen und -bürger haben darüber gelächelt und insgeheim gehofft, dass sich die digitale Aufregung wieder legt. Deutschland hat abgewartet – über 30 Jahre sind seit der Bund-Länder-Kommission zur informationstechnischen Grundbildung (1987) vergangen. Die Krise zeigt nun den fatalen Fehler! Viele Lehrkräfte stellen gerade jetzt fest, dass sie die Technik nicht nur nicht bedienen, sondern sie auch nicht verstehen und sie daher den Kindern auch nicht ansatzweise erklären können. Wie will man souverän mit Schülerinnen und Schülern ein Medium nutzen, das man selbst nicht beherrscht?
Die Relevanz einer soliden informatischen Grundbildung wurde in der Aus- und Weiterbildung dramatisch unterschätzt. Die öffentliche Diskussion erweckte vor Corona den Anschein, dass die Technik durch den Digitalpakt ihre Wirkung in der Schule entfaltet – wie eine Schmerztablette, die in Wasser aufgelöst beziehungsweise ins Schul-WLAN eingehängt ihre Wirkstoffe geheimnisvoll im Schulkörper entfalten und den Kopfschmerz der digitalen Bildung heilen kann. Dass das so nicht geht, wird jetzt deutlich.
Von Produkten unabhängige informatische Basiskompetenz sowie das Knowhow um digitale Medien mit pädagogischem und schulorganisatorischem Nutzen fehlen den Lehrkräften. Wenn wir das ändern wollen, brauchen wir verpflichtende Fortbildungen in der Dienstzeit der Lehrkräfte. Und wir müssen dringend etwas daran ändern, dass auch im Jahr 2020 (!) Lehrkräfte, die unser höchstes Gut – die Kinder – für eine selbstbestimmte Teilhabe an einer digital vernetzen Gesellschaft bilden sollen, keine digitalen Arbeitsgeräte wie Laptops oder Tablets von ihrem Dienstherrn erhalten.
Warum es Informatik für alle braucht
Auch 2020 gibt es in der Mehrzahl der Bundesländer keinen verpflichtenden Informatikunterricht bis zum Schulabschluss. Wer die Mündigkeit unserer Jugend in einer digitalen Welt sicherstellen will, muss sie befähigen digitale Geräte nicht nur sicher zu nutzen, sondern ihnen auch grundlegende Prinzipien näherbringen, um die gesellschaftlichen Auswirkungen zu verstehen. Auch für die Teilhabe braucht es verpflichtenden Informatikunterricht.
Im aktuellen Schulsystem sind Noten die Währung, die bestimmt, was wichtig ist. Solange es keine Noten für Schülerinnen und Schüler zur Medienkompetenz und zu informatischen Grundlagen gibt, werden sie oder Lehrkräfte, die das beherrschen nicht wertgeschätzt. Gerade Mädchen und Frauen würden profitieren: Nur durch reguläre Schulnoten in Informatik würden sie endlich die Chance haben, positives Feedback zu bekommen und feststellen können, dass sie mindestens genauso gut sind wie ihre Mitschüler.
Mehr Expertinnen und Experten in die Schulen schicken
Mit der Digitalisierung hoffen viele Menschen zu Recht auf bessere Bildung und Teilhabe, die mit der Technik in die Schulen kommt. Doch diese Technik gilt es nicht nur anzuschaffen. Sie muss gewartet und aktuell gehalten werden. Dafür braucht es ausgebildetes IT-Fachpersonal, das die digitale Infrastruktur einer Schule verlässlich und zeitgerecht pflegt und Schulen bei der Nutzung digitaler Technik beraten kann. Heute wird diese Aufgabe oft von engagierten aber überlasteten Lehrkräften oder gar Schülern übernommen. Selbst Kleinunternehmen verfügen heute oft über IT-Fachpersonal – eine Schule mit 50 Lehrkräften und 700 Schülerinnen und Schülern meist nicht.
Doch auch die modernste Technik ist umsonst, wenn sie nicht sinnvoll genutzt wird. Für die Beratung von Lehrkräften und Schulträgern zu digitalen Unterrichts-Lösungen braucht es gut ausgebildete Medienpädagoginnen und -pädagogen an den Schulen vor Ort. Um Digitalpaktmittel nachhaltig zu investieren, müssen Schulträger bei der Erstellung ihrer Anträge besser unterstützt werden. Pädagogische Medienkonzepte und IT-Infrastruktur müssen im Einklang stehen, damit Schulen von digitalen Lösungen für Lehr- und Lernprozesse profitieren können.
Geld und Bandbreite muss bis zum Sommer her
Die Pandemie wird sich im neuen Schuljahr massiv auf den Schulbetrieb auswirken. Darum muss digitale Technologie jetzt sinnvoll eingesetzt werden, um online-gestützten Unterricht auch auf Distanz anzubieten. So bleibt der persönliche Kontakt zwischen Schülerinnen und Schülern und ihren Lehrkräften auch ohne Präsenz erhalten. Die von Bundesministerin Anja Karliczeck (CDU) am Freitag vorgestellte Zusatzvereinbarung für den Digitalpakt Schule ist ein erster Schritt, um alle Schülerinnen und Schüler, unabhängig der sozialen Herkunft, am Online-Unterricht teilhaben zu lassen. Damit das neue Schuljahr für die aktuelle Schülergeneration erfolgreich und fair gestaltet werden kann, müssen die 500 Millionen Euro des Sofortprogramms und angemessene Bandbreite bis zu den Sommerferien bei den Schulen ankommen und für Hardware und Schulungen ausgegeben werden.
Es ist zu hoffen, dass wir als Bildungsrepublik gestärkt aus der Krise hervor gehen. Doch dafür müssen Bund, Länder und Kommunen jetzt entschlossen und schnell handeln – ohne Gerangel um Zuständigkeiten. Nur mit gemeinsamem Einsatz werden wir das Bildungssystem zum Erfolg führen. Denn „nur derjenige hat Erfolg, der etwas tut, während er auf den Erfolg wartet“ (Edison).
Ira Diethelm ist Mitglied des Präsidiums der Gesellschaft für Informatik (GI) und Professorin für Didaktik der Informatik an der Universität Oldenburg. Sie ist Mitglied des Digitalrats der Landesregierung Niedersachsen.
Dirk Röhrborn ist Co-Founder der Communardo Software GmbH, ehrenamtliches Mitglied des Bitkom-Präsidiums sowie Mitglied im Beirat Digitale Wertschöpfung des Freistaates Sachsen.
Die sieben Handlungsempfehlungen des Bündnisses zur „Offensive Digitale Schultransformation“, auf denen dieser Beitrag basiert, werden heute an dieser Stelle veröffentlicht und können dort unterzeichnet werden.