Der 5. Dezember 2022 markiert den 285. Tag der barbarischen russischen Invasion in die Ukraine. Nach fast 300 Tagen Terror, Tod und Vertreibung, Angriffen auf Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Energieinfrastruktur, Bahnhöfe und Wohnhäuser wird die Europäische Union heute endlich damit beginnen, konkrete Sanktionen gegen die wichtigste Einnahmequelle dieses mörderischen Regimes zu verhängen: die Ölexporte.
Zwischen dem 24. Februar und dem 5. Dezember wird Russland nach Schätzungen des Centre for Research on Energy and Clean Air zirka 159 Milliarden Euro durch den weltweiten Export von Öl und Ölprodukten eingenommen haben. Ungefähr 69 Milliarden Euro hiervon flossen von Großbritannien und der EU gen Osten. Bedenkt man, dass Russland bislang geschätzte 82 Milliarden Dollar für den Krieg ausgegeben hat, wird die Dimension schnell klar.
EU und G7 haben nun einen komplizierten Kompromiss ausgearbeitet, der darauf abzielt, Putins Einnahmen zwar zu schmälern, aber das Öl weiter fließen zu lassen. Dieser Deal ist ein Anfang, reicht aber nicht aus, um den Export von russischem Öl effektiv zu blockieren. In einem ersten Schritt wird die Einfuhr von Rohöl auf dem Seeweg in die EU verboten. Nach Angaben von S&P Global wären davon etwa 2,5 Millionen Barrel pro Tag betroffen, für die Russland neue Abnehmer finden muss. Ein Verbot für raffinierte Erdölprodukte soll am 5. Februar folgen.
Zweifel an Überwachung und Sanktionierung in der EU
Zusätzlich soll auch der Handel mit russischem Öl zur Lieferung an Drittländer über den sogenannten Price-Cap-Mechanismus eingeschränkt werden. Unternehmen aus der EU oder den G7-Staaten dürfen sich dann nur noch an solchen Geschäften beteiligen, wenn der Ölpreis die Preisgrenze von 60 Dollar pro Fass nicht überschreitet. Dies betrifft Rohstoffhändler ebenso wie (Rück-)Versicherer oder Schiffseigner.
Eine Schlüsselrolle werden die sogenannten Protection and Indemnity-Versicherungen (P&I) für Öltanker spielen. Bislang führt hier kaum ein Weg an der in London ansässigen International Group of P&I Clubs vorbei, die auf über 90 Prozent Marktanteil kommt. Alternativen sind rar, daher könnte es für Moskau schwer werden, für den entsprechenden Versicherungsschutz zu sorgen. Doch ohne diesen wird kaum ein Land Öllieferungen in Erwägung ziehen. Schließlich drohen bei Tankerunfällen schnell Kosten in Milliardenhöhe. In der Theorie wird Russland den Price Cap kaum ignorieren können.
Dennoch besteht kein Anlass zur Euphorie. Erstens ist die vereinbarte Preisobergrenze von 60 Dollar wenig ambitioniert. Zweitens werden lange Übergangsfristen eingeräumt, die ein zügiges Nachschärfen unmöglich machen. Drittens lässt sich nur vage erahnen, wie und von wem die Sanktionen de facto überwacht und sanktioniert werden sollen.
Keine „Zeitenwende“ für Russland
Zum ersten Punkt: Die vereinbarte Preisobergrenze von 60 Dollar liegt laut Bloomberg zwar unter dem derzeitigen Preis für russisches Öl in Asien, aber sogar über dem aktuellen Preis für russisches Öl der Sorte Urals, die über die Ostsee und das Schwarze Meer verschifft wird. Polen und die baltischen Staaten konnten sich mit ihrer Forderung nach einem deutlich niedrigeren Preisdeckel von 30 Dollar nicht durchsetzen.
Die Ankündigung der EU, die Obergrenze solle zukünftig immer mindestens fünf Prozent unter dem Marktpreis liegen, klingt nicht unbedingt wie eine Kampfansage an Moskau. Viele Staaten in EU und G7 haben sich von der Angst vor steigenden Ölpreisen leiten lassen. Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, ob in den Wochen und Monaten vor dem 5. Dezember wirklich alle Register gezogen wurden, um den Ölverbrauch signifikant zu senken und damit weiteren Spielraum zu schaffen. Der Verweis auf steigende Preise wirkt bemerkenswert bequem vor dem Hintergrund, dass Russland die Ukraine seit fast zehn Monaten in eine humanitäre Katastrophe bombardiert.
Lange Übergangsfristen machen den Price Cap träge
Zum zweiten Punkt: Zwar gilt die Preisobergrenze offiziell ab dem heutigen 5. Dezember. Doch wird zu Beginn erst einmal eine 45-tägige Schonfrist eingeräumt für Öllieferungen, die vor dem 5. Dezember geladen wurden. Ab Mitte Januar soll die Preisobergrenze im Zweimonatsrhythmus überprüft werden, aber jede Veränderung zieht dann wieder zwingend eine 90-tägige Übergangsphase nach sich. Russland wird zumindest noch den Winter über relativ unbehelligt in Drittstaaten liefern können, während zeitgleich den Menschen in der Ukraine die vielleicht schlimmsten Monate drohen. Ausbuchstabiert wird dies in den EU-Durchführungsbestimmungen.
Zum dritten Punkt: Im Gegensatz zu den USA verfügt die EU nicht über eine mächtige Kontrollbehörde wie das Office of Foreign Assets Control (OFAC). Stattdessen liegt die Sanktionskontrolle in der Verantwortung der 27 Mitgliedsstaaten. Die OFAC-Kommentare zur Umsetzung des Price-Cap-Mechanismus geben einen Vorgeschmack darauf, wie kompliziert die Praxis werden könnte.
Dementsprechend sollen Rohstoffmakler und -händler nun Rechnungen, Verträge und Zahlungsbestätigungen bereithalten, um nachzuweisen, dass die Preisobergrenze für russisches Öl eingehalten wurde. Beteiligte Finanzinstitute können das Gleiche tun oder eine „Preisobergrenzenbescheinigung“ vorlegen. (Rück-)Versicherer und Schiffseigner wiederum müssen nur eine Ausschlussklausel für Sanktionen in ihre Policen aufnehmen oder können sich ebenfalls auf ein Price-Cap-Zertifikat stützen. Aber reicht eine Ausschlussklausel, um Missbrauch zu verhindern, gerade im möglicherweise für die Wirksamkeit der Sanktionen entscheidenden Bereich der Versicherungen? Daran darf man zweifeln.
Darüber hinaus muss beispielsweise laut OFAC geprüft werden, ob das Öl nach Abschluss des Geschäfts mit dem Drittland unverarbeitet weiter auf dem Seeweg transportiert wird, was verboten ist. Oder ob es sich bei den nachfolgenden Geschäften um raffinierte Produkte handelt – das ist erlaubt. Ein einfaches Blending reicht in den Augen der OFAC jedoch nicht aus, um die erforderliche „substantial transformation“ zu erreichen.
Die US-Behörde weist ferner darauf hin, dass auch unangemessen hohe Versand-, Fracht-, Zoll- oder Versicherungskosten als mögliche Umgehung der Preisobergrenze in Betracht kämen. Insgesamt muss man sich fragen: Können die Zollbehörden der EU-Mitgliedsstaaten solche Kontrollen leisten? Oder verlässt sich die EU auf die abschreckende Wirkung der OFAC-Kontrollen?
Die Strafen müssen hoch sein
Dort, wo Kontrollen schwierig sind, könnten zumindest abschreckende Strafen ihre Wirkung entfalten. Würde Schiffen, die gegen die Preisobergrenze verstießen, dauerhaft das Anlaufen von EU- oder G7-Häfen untersagt, läge die Hemmschwelle wohl ausreichend hoch. Die EU sieht für Schiffe bei wissentlichen Verstößen jedoch lediglich ein 90-Tage-Verbot für weitere russische Ölgeschäfte vor. Zur Sanktionierung von Rohstoffhändlern, Finanzinstituten und Versicherungsunternehmen im Falle eines Verstoßes macht die EU bislang keine Angaben.
Fazit: Selbst wenn das Ölembargo gegen Russland endlich die Daumenschrauben etwas anzieht, bleiben dem Putin-Regime noch zu viele Einnahmemöglichkeiten erhalten. Es gibt kein Embargo auf Pipeline-Öl, kein Embargo bei Nuklearbrennstäben, dafür aber zahlreiche Demütigungen durch Russland beim fossilen Gas. Schließlich ist ein Kohle-Embargo in Kraft, das aber den Handel mit Drittländern weiterhin unbeschränkt erlaubt.
Maximaler Druck auf die Kriegstreiber in Moskau kann und muss anders aussehen. Die Preisobergrenze muss deutlich abgesenkt und es muss schnellstmöglich auf ein vollständiges Embargo hingewirkt werden. Zehntausende Menschen fielen dem russischen Terror schon zum Opfer. Über zehn Millionen sind geflohen, mindestens ebenso viele müssen aktuell ohne Strom auskommen. Vielen droht im Winter der Kältetod. Daher ist jedes zusätzliche Barrel Öl, jeder Kubikmeter Gas, jede Tonne Kohle, mit der Russland Geld verdienen kann, zu viel. Der 5. Dezember ist ein wichtiger Meilenstein, aber nicht der Tag, ab dem sich Europa zufrieden zurücklehnen kann.
Sebastian Rötters ist Energie-Kampaigner
bei der NGO Urgewald e.V.