Herr Becker, bei der Bundestagswahl ist die SPD gerade in die Opposition geschickt worden. Mit welchen Gefühlen blickt die Landespartei auf die Wahl am 15. Oktober?
In vielen Gesprächen vermitteln mir die Bürgerinnen und Bürger, dass sie Bundes- und Landespolitik sehr differenziert bewerten. Ich selbst bin, was den Ausgang der Wahl für meine Partei angeht, sehr optimistisch. Jetzt geht es in Niedersachsen in die zweite Halbzeit.
Mit welcher Partei kann die Niedersachsen-SPD in energiepolitischen Fragen denn am besten?
Natürlich gibt es Unterschiede. Im demokratischen Parteienspektrum sehe ich keine Positionen, die mit dem Pariser Klimaabkommen völlig unvereinbar wären. Aus den Erfahrungen der vergangenen fünf Jahre kann ich aber sagen, dass die rot-grüne Landesregierung eine sehr erfolgreiche Klimaschutz- und Energiepolitik betrieben hat und da wünsche ich mir natürlich, dass diese Koalition fortgesetzt wird.
Welche Projekte der Energiepolitik der vergangenen Jahre stechen denn besonders hervor?
Wir verfügen in Niedersachsen über einen Erzeugungsanteil an erneuerbaren Energien, der sich positiv vom Bundesdurchschnitt abhebt. Viele Zukunftsprojekte sind in Niedersachsen angesiedelt. So beispielsweise Enera im Nordwesten Niedersachsens, einer Region, in der bereits heute ein Anteil von 170 Prozent erneuerbarer Energien durch die Stromnetze fließt. Es ist ein Real-Testfeld für Speicher, Netzstabilität und Digitalisierung der Energiewende.
Wie die saubere Energiezukunft Niedersachsens aussehen kann, verdeutlicht im Übrigen das „Energieszenario 2050“, ein Gutachten, das von der Landesregierung für den „Runden Tisch Energiewende“ in Auftrag gegeben worden ist. Damit haben wir für Niedersachsen einen wohl bundesweit einmaligen Fahrplan für das Gelingen der Energiewende. Die gute Botschaft ist: Niedersachsen kann seine Energieversorgung bis 2050 komplett auf heimische, erneuerbare Energien umstellen. Und es wird nicht teurer, als die Fortsetzung des gegenwärtigen Erzeugungsstandards mit konventionellen Energieträgern.
Haben Sie in Niedersachsen ähnliche Probleme wie in Schleswig-Holstein, dass Überkapazitäten an Windstrom die Netze überlasten und daher Anlagen abgeregelt werden müssen?
Eine perfekte Koordinierung des Ausbaus von Erzeugungsanlagen, Netzen und Speichern lässt sich in einer dynamischen Zubau- und Umstellungsphase mit dem Parallelbetrieb von herkömmlichen und regenerativen Erzeugungsstrukturen kaum vermeiden. Die Sektorkoppelung, der Ausbau von Power-to-X- Technologien mit den jeweiligen Potenzialen für eine erzeugungsnahe Energienutzung und der Ausbau von Energiespeichern bieten hier aber enorme Potenziale. All das fördern wir.
Wie ist denn generell die Stimmung der Bevölkerung in Ihrem Bundesland beim Thema Windkraft?
Prinzipiell gibt es eine große Zustimmung für die Energiewende und den Ausbau erneuerbarer Energien. Aber natürlich gibt es auch Vorbehalte gegen Windkraftanlagen im Umfeld von Wohnbebauung. Wir müssen im Einzelfall verträgliche Abstandsregelungen finden, das ist keine Frage. Umgekehrt gilt auch: die Anwendung der Länderöffnungsklausel mit 10H – wie in Bayern – führt zu einem faktischen Ausbaustopp.
Gegenwärtig wird in Niedersachsen circa ein Prozent der Landesfläche für die Windkraft genutzt. Für die Realisierung der Ausbauziele bis 2050 werden ungefähr 1,5 Prozent benötigt. Da sollten vernünftige Kompromisse möglich sein. In dem „Energieszenario 2050“ hat die Photovoltaik mit 36 Prozent übrigens den größten Anteil. Danach folgen die Windenergie mit etwa 30 Prozent und die Biomasse mit etwa 20 Prozent. Letztere wird aber nicht mit Energiepflanzen betrieben, sondern mit Reststoffen wie Stroh und Gülle.
Wie sieht es bei der Windenergie auf See aus?
Niedersachsen verfügt da über ein enormes Potenzial. Die jüngsten Ausschreibungsergebnisse haben gezeigt, dass die Stromgestehungskosten deutlich niedriger ausfallen als erwartet. Und die Forschungsdynamik lässt insbesondere im Offshore-Bereich weitere Kostensenkungen erwarten.
Audi betreibt in Werlte eine Power-to-Gas Anlage und erforscht diese Technologie. Solche Anlagen sind allerdings sehr teuer, weil sie mit vollen Abgaben belastet sind. Wäre das etwas aus SPD-Sicht, was anzugehen ist?
Unbedingt. Energiespeicher sind keine „Letztverbraucher“. Die Doppelbelastungen durch Netzentgelte, Umlagen und Steuern und die damit verbundenen bürokratischen Hürden müssen beseitigt werden – insbesondere mit Blick auf die Sektorkopplung.
Welche weiteren energiepolitischen Themen gilt es anzupacken?
Die spannendsten Themen der Energiezukunft sind wohl die Sektorkopplung und die Steigerung der Energieffizienz. Wir werden bis 2050 mit gut der Hälfte des gegenwärtigen Energieverbrauchs auskommen müssen. Und in den Wärme- und Mobilitätssektoren bestehen natürlich große Potenziale. Auch vor dem Hintergrund der großen Bedeutung des VW-Konzerns in Niedersachsen würde ich mir natürlich wünschen, dass VW zu einem Vorreiter in der Elektromobilität wird.
Glauben Sie, dass der VW-Skandal der SPD in Niedersachsen geschadet hat?
Ich sehe dafür jedenfalls keinen Grund. Die Softwaremanipulationen sind jedenfalls zu einem Zeitpunkt vorgenommen worden, als diese Regierung noch gar nicht im Amt war. Im Übrigen sind mir aber auch keine Hinweise bekannt, nach denen die damaligen Mitglieder des Aufsichtsrates etwas von diesen Manipulationen gewusst hätten oder diese hätten erkennen können. Wenn es um den Umgang mit den Softwaremanipulationen geht, bin ich im Übrigen sehr froh, dass wir mit Ministerpräsident Weil und Wirtschaftsminister Lies zwei Personen im Aufsichtsrat haben, die sich für einen transparenten und ungeschminkten Umgang mit diesen Vorgängen einsetzen. Eine meines Erachtens wichtige Voraussetzung, um Vertrauen für VW zurückzugewinnen.
Auf Bundesebene ist gerade viel von „roten Linien“ die Rede. Gibt es „rote Linien“ der SPD Niedersachsen bei der Energiepolitik?
Ich gehe davon aus, dass sich alle Parteien des demokratischen Spektrums an die nationalen klimapolitischen Zielsetzungen gebunden fühlen. Dann sollte die Energiepolitik kein entscheidendes Hindernis darstellen. Ein Stopp des Ausbaus erneuerbarer Energien wäre mit der SPD jedenfalls nicht zu machen.
Spielt die Suche nach einem Endlager für Atommüll eigentlich eine Rolle im Wahlkampf?
Nachdem wir das Prinzip der „weißen Landkarte“ im Standortauswahlgesetz durchgesetzt haben, gibt es mindestens keine Sonderrolle für Gorleben mehr. Aber das Thema der Endlagersuche für hochradioaktive Abfälle bleibt natürlich auf der Tagesordnung.
Karsten Becker ist energiepolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im niedersächsischen Landag.