1. Wir – Deutschland und Europa – sollten die Abhängigkeit von russischen Energieimporten kurz- und mittelfristig so weit wie irgend möglich reduzieren.
Die Abhängigkeit sollte aus zwei Gründen reduziert werden: Einerseits, weil Russland die Lieferungen einstellen könnte. Andererseits, weil sich Europa damit die Möglichkeit eröffnet, selbst den Bezug im Rahmen von Sanktionen zu stoppen.
Selbst wenn beide Szenarien niemals eintreffen sollten, hat eine reduzierte Abhängigkeit einen hohen Wert. Sie macht Europa weniger erpressbar und ermöglicht Europa Sanktionen auch auf den Energiesektor auszuweiten.
Die Abhängigkeit wird reduziert, in dem wir einerseits die Energieimporte reduzieren und andererseits Vorsorge treffen für einen kurzfristigen Lieferstopp.
2. Es geht primär um Erdgas. Öl und Kohle sind zweitrangig.
Große Teile Europas sind stark von russischen Gasimporten abhängig, vor allem in Mittel- und Osteuropa. Ein Ausweichen auf andere Lieferanten ist schwierig. Der Transport von Gas innerhalb Europas ist durch die Pipelineinfrastruktur eingeschränkt.
Zwar importiert Europa auch viel Öl und Kohle aus Russland (und Erlöse aus dem Ölexport sind für den russischen Staatshaushalt etwa fünf Mal wichtiger als Erdgas), doch hier ist das Ausweichen auf andere Lieferanten einfacher als bei Erdgas. Öl und Kohle lassen sich einfach und flexibel per Schiff transportieren, im Fall von Öl existieren strategische Reserven. Die nötige Importinfrastruktur ist, anders als Regasifizierungs-Terminals, vermutlich in ausreichendem Maße vorhanden.
Zudem ist der innereuropäische Transport von Kohle und Öl einfacher.
Auch als Sanktion ist das Einstellen des europäischen Bezugs von russischem Öl und russischer Kohle voraussichtlich weniger stark wirkungsvoll, weil Russland einfacher auf andere Abnehmer ausweichen könnte als bei Erdgas.
3. Bei der Diversifizierung von Lieferanten und Verringerung des Verbrauchs müssen alle Register gezogen werden.
Russland liefert etwa 40 Prozent des europäischen Gasverbrauchs. In Deutschland beträgt der Anteil etwa 55 Prozent. Die Herausforderung, diesen Anteil zu reduzieren, ist enorm.
Eine Regulierung der Gasspeicher ist wichtig und sinnvoll. Die Gasspeicher müssen im Laufe des Sommers und Herbst unbedingt gefüllt werden.
Dies ist aber nicht ausreichend. Die Gasspeicherkapazität in Deutschland liegt bei nur circa 25 Prozent des Jahresverbrauchs. Dies kann helfen einen Winter zu überbrücken, garantiert aber noch keine strategische Unabhängigkeit über längere Zeiträume. Die größere Herausforderung ist, übers Jahr betrachtet in Summe genügend Gas zur Verfügung zu haben.
Im Folgenden stellen wir eine Reihe von Einzelmaßnahmen vor, die wir für sinnvoll und angemessen halten. Um vom russischen Erdgas kurzfristig unabhängig zu werden, sind eine Vielzahl und zum Teil durchaus drastische Maßnahmen notwendig.
4. Auch auf dem Energiemarkt ist europäische Solidarität essenziell, gerade jetzt.
Es kommt gerade auch auf die Versorgungssicherheit mit Erdgas in Mittel- und Osteuropa an. Alle Planungen der deutschen Versorgungssicherheit müssen dies von Anfang an berücksichtigen.
Die Herausforderungen für die Länder Europas sind durchaus unterschiedlich, aber die EU muss als Ganze unabhängiger von Russland werden, sonst ist wenig gewonnen.
5. Die Zeit drängt, der Planungshorizont ist kurzfristig.
Erdgas ist, anders als Strom, speicherbar. Deswegen sollten Spar- und Diversifizierungsmaßnahmen sofort beginnen, nicht erst im kommenden Winter. Jede kWh Erdgas, die wir diesen März einsparen, entspannt die Versorgungslage im laufenden Jahr und möglicherweise auch bis in den März nächsten Jahres.
All dies betrifft insbesondere die unmittelbare Zukunft der Jahre 2022 und 2023. Kurzfristig sollten Entscheidungen primär für diese Zeit getroffen werden.
Es besteht keine Notwendigkeit, jetzt über das Jahr 2030 zu diskutieren (zum Beispiel den Endpunkt des Kohleausstiegs). Es besteht auch keine Notwendigkeit, langfristige klimapolitische Maßnahmen zu verschieben. Beispielsweise stehen für das kommende Jahr mehrere klimapolitische Entscheidungen zum Fit-for-55-Paket an. Diese werden aber erst mittelfristig wirksam sein, ein ETS-2 zum Beispiel würde voraussichtlich erst ab 2026 eingeführt. Es besteht kein Grund, das klimapolitische Ambitionsniveau zu verwässern und damit die klimapolitische Glaubwürdigkeit der EU zu schädigen.
Einige relevante Investitionen haben eine lange Vorlauf- und dann Lebenszeit. Solche Entscheidungen sollten kurzfristig getroffen werden, selbst wenn sie sich im Nachhinein als nicht notwendig herausstellen. Zum Beispiel eröffnen LNG-Terminals Flexibilitätsoptionen die wertvoll sind, auch wenn sie über ihre Lebenszeit kaum genutzt würden.
6. Investitionen in Erneuerbare, Energieeffizienz und Elektrifizierung vorziehen, beschleunigen, skalieren
Jedes Windrad, jeder Solarpark, jede Biomasseanlage, jede Wärmedämmung, jede Wärmepumpe, die im Laufe dieses Jahres gebaut wird, hilft.
Dies verlangt schnelle und konsequente Investitionsentscheidungen von Unternehmen, Vermietern, privaten Haushalten, und öffentlichen Einrichtungen.
Dies bedarf gleichzeitig auch einer Kraftanstrengung bei Herstellern und Lieferanten, Handwerkern und Installateuren, Planungs- und Genehmigungsbehörden.
Angesichts der veränderten Lage halten wir eine grundlegende Neubewertung auch von anderen Interessen (Anwohner, Umwelt, Mieter) für angemessen. Im Sinne einer kurzfristigen Beschleunigung des Ausbaus der Erneuerbaren begrüßen wir die Einordnung von erneuerbaren Energien als von überragendem öffentlichen Interesse. Könnten Genehmigungs- und Einspruchsverfahren zumindest für die nächsten Jahre beschleunigt werden, wäre die sehr zu begrüßen.
Mittel- und langfristig ist der Umstieg auf erneuerbare Energien drängender denn je. Hürden und Beschränkungen sollten abgebaut werden.
Der kürzlich vorgelegte sehr ambitionierte deutsche Ausbauplan für Wind- und Solarenergie ist sinnvoll. Eine entsprechende explizite Unterstützung aller politischen Ebenen und Parteien ist wünschenswert.
7. Für die nächsten wenigen Jahre sollen alle verfügbaren Kohle- und Kernkraftwerke erhalten bzw. reaktiviert werden.
Jede Kilowattstunde Strom aus einer anderen Quelle reduziert den Gasverbrauch um fast zwei Kilowattstunden, weil Gaskraftwerke im Schnitt einen Wirkungsgrad von etwa 50 Prozent haben.
Eine Verlängerung der Laufzeit von Kohle- und Kernkraftwerken um wenige Jahre (zwei bis fünf) scheint sinnvoll. Damit ist keineswegs der grundsätzliche Atom- und Kohleausstieg in Frage gestellt.
Ebenso sollten Kraftwerke aus Netz- und Kapazitätsreserven dem Strommarkt zur Verfügung gestellt werden.
Es geht nicht primär darum, Erzeugungsleistung zu erhalten, sondern vor allem darum, Erdgas an jeder Stelle im System und wann immer möglich zu ersetzen – deswegen müssen diese Kraftwerke auch laufen.
Die Herausforderungen hierbei sind vor allem hinsichtlich Kernkraft groß, aus Gründen der sicherheitsrelevanten Genehmigungen und der Brennstoffverfügbarkeit.
Alle Kohlekraftwerke sind im europäischen Emissionshandel reguliert. Damit ist die Gesamtmenge der Emissionen über die Zeit gedeckelt, höhere Emissionen heute müssen durch geringere Emissionen in der Zukunft kompensiert werden. So lange die Fit-for-55 Reform des EU ETS (insbesondere Verschärfung des Cap) nicht auf Grund der aktuellen Krise verwässert wird, werden die klimapolitischen Ziele nicht kompromittiert.
Diese Maßnahmen sind ordnungs- und klimapolitisch problematisch und unter normalen Bedingungen würden wir sie klar ablehnen. Unserer Meinung nach rechtfertigt die aktuelle sicherheitspolitische Ausnahmesituation sie jedoch.
8. Kurzfristig LNG beschaffen, mittelfristig Terminals in Deutschland bauen.
Europa hat rechnerisch genügend LNG-Importkapazitäten, um mehr als die Hälfte seines Erdgasverbrauchs zu decken. Allerdings liegen viele davon in Westeuropa (Spanien alleine hat circa 25 Prozent der Importkapazität) und können nur eingeschränkt für Mitteleuropa genutzt werden. Die LNG-Kapazitäten wurden in den letzten Jahren nicht einmal zur Hälfte genutzt.
Der geplante Bau von zwei LNG-Terminals in Deutschland ist sinnvoll. Angesichts der aktuellen Lage ist auch eine maximale Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsprozessen sinnvoll.
Regasifizierungsterminals haben einen Wert an sich, selbst wenn sie nie genutzt werden. Ihre bloße Existenz mindert das Erpressungspotential. Sie sind also eine Versicherung.
Die bereits laufenden politischen Bemühungen um zusätzliche LNG-Lieferungen sind sinnvoll und notwendig, da LNG auf den Weltmärkten knapp ist, die meisten Exportkapazitäten in langfristigen Lieferverträgen gebunden sind, und kurzfristig nur wenig Spielraum für zusätzliche Exporte vorhanden zu sein scheint.
Wo kurzfristig möglich, wäre eine temporäre (Wieder-)Aufnahme von Erdgasproduktion in der EU wünschenswert, gegebenenfalls unter einer Neubewertung der Erdbebengefahr in Groningen.
9. Signifikante Komfort-Einschränkungen im nächsten Winter sind denkbar und gegebenenfalls notwendig.
Die Hälfte des deutschen Erdgasverbrauchs entfällt auf das Heizen von Wohngebäuden und Büros.
Eine Reduktion der Raumtemperatur ist die mit Abstand wirksamste Option für die beiden kommenden Winter, um den Verbrauch zu reduzieren.
In größeren Gebäuden (Bürogebäude, Mehrfamilienhäuser) wäre ein Absenken der Vorlauftemperatur eine denkbare Maßnahme, für die allerdings eventuell das Mietrecht temporär geändert werden müsste (insbesondere die Garantie einer Mindest-Raumtemperatur von 20 bis 22 Grad).
Für Bürogebäude sind rechtliche Anforderungen an die maximale Raumtemperatur in Erwägung zu ziehen.
In vielen Fällen dürften transparente, hohe Energiepreise das einzige realistische Steuerungsinstrument sein.
Endverbraucher erfahren Preissprünge gegebenenfalls mit monate- oder jahrelanger Verzögerung über Preisanpassungen oder Nachzahlungen. Deswegen ist eine klare Kommunikation schon heute wichtig, dass die Heizkosten insbesondere für Erdgasheizungen in den kommenden Wintern stark steigen werden.
Daneben ist eine Informations- und Aufklärungskampagne darüber essenziell, warum Energiesparen relevant ist und wie es funktioniert – nämlich im Wesentlichen beim Heizen.
10. Einige Industriezweige werden stark unter hohen Erdgaspreisen leiden.
In der Industrie wird Erdgas für Prozesswärme und stoffliche Nutzung (als Vorprodukt in der Chemieindustrie) verwendet. Beispiele sind Glaserzeugung, Grundchemie (Methanol, Ammoniak), Düngemittelherstellung, Raffinerien und Teile der Eisen- und Stahlindustrie.
Diese Industrien werden ihren Gasverbrauch in den kommenden Jahren vermutlich stark einschränken, als Reaktion auf den hohen Preis. Das ist zwar ökonomisch schmerzhaft, aber sinnvoll und wichtig. Denn die Produkte dieser Industrien sind meist deutlich leichter zu importieren als Gas. Eine temporäre Substitution inländischer, Gas-benötigender Industrieproduktion durch Importe ist also kurzfristig wünschenswert.
Ein hoher Gaspreis ist notwendig, um leichter ersetzbare Nachfrage aus dem Markt zu drängen, damit genügend Gas für die schwerer zu ersetzenden Produkte und Anwendungen bleibt. Es ist genau diese Art von komplexen Priorisierungsentscheidungen, für die wir Koordination durch einen Markt brauchen.
Dafür sollten Firmen und Mitarbeiter angemessen entschädigt werden. Unterstützungszahlungen sollten so ausgestaltet sein, dass sie zwar ökonomische Härten abfangen, aber nicht den Anreiz geben, den Gasverbrauch fortzuführen.
Kurzfristig sollten alle Potentiale für einen Wechsel auf andere Brennstoffe in bivalenten Wärme-/Dampferzeugern genutzt werden und die Umrüstung auf Power-to-Heat stärker gefördert werden (Großwärmepumpen, Hochtemperaturwärmespeicher).
11. Hohe Energiepreise sind als effizientes Anreizsignal für Diversifizierung und Nachfragesenkung essenziell.
Hohe Preise für Erdgas (und auch Strom) sind der wichtigste, wirksamste und effizienteste Mechanismus, um die Nachfrage zu senken und zusätzliches Angebot zu schaffen.
Eine Deckelung von Preisen würden den wichtigsten Anpassungsmechanismen beschädigen, den wir haben.
Kompensationsmaßnahmen für Unternehmen und Haushalte sollten effektive Preise nicht reduzieren, um Anreize zum Energiesparen nicht zu verwässern. Zum Beispiel verzerren Preisdeckel auf Brennstoffe, eine Umstellung von Grenz- auf Durchschnittskosten in der Inrechnungstellung für Energiekunden, die Abschöpfung von ökonomischen Renten (windfall profits) für Anbieter aufgrund hoher Gaspreise, oder die Pendlerpauschale Anreize zur Bereitstellung von Optionen von alternativen Brennstoffen und Bedarfsreduktionen.
Für die sozialpolitische Flankierung sind dagegen Pauschalzahlungen an besonders betroffene Gruppen sinnvoll (zum Beispiel einkommensschwache Haushalte). Eine Klimadividende sollte schnellstmöglich in ihrer Ausgestaltung vorbereitet und dann eingeführt werden.
12. Der Strommarkt funktioniert.
Gerade in Zeiten von Krisen und Stress im Energiesystem sind robuste Märkte für Strom und andere Energieträger wichtig.
Der Strommarkt unterstützt die Substitution weg von temporär besonders knappen Ressourcen (vor allem Gas) und reicht die Knappheitssignale direkt an industrielle Stromverbraucher weiter.
Der Strommarkt hat sich in der Krise als robust und resilient erwiesen, sowohl in der Energiepreiskrise des Herbstes und Winters wie auch seit dem russischen Überfall auf die Ukraine. Aus der aktuellen Krise heraus gibt es keinen Bedarf für Änderungen des Strommarktdesigns.
13. Es gibt zahlreiche Synergien, teils aber auch Konflikte mit klimapolitischen Zielen.
Auch wenn die sicherheitspolitische Lage gefährlich und akut ist, bleibt das Klimaproblem drängend.
Viele Handlungsoptionen sind synergetisch, insbesondere die Beschleunigung von Investitionen in Energieeffizienz, erneuerbare Energien und Elektrifizierung.
Andere Handlungsoptionen sind klimapolitisch ein Rückschritt, jedoch nur temporär und deswegen in der aktuellen Situation zu vertreten. Dazu gehört die Nutzung von Kohlekraftwerken aus Reserven und die Verschiebung der Abschaltung weiterer Kohlekraftwerke um einige Jahre. Die Emissionen aus Kohlekraftwerken sind zudem durch das EU ETS gedeckelt.
Manche Handlungsoptionen bedeuten aber auch echte Dilemmata zwischen klima- und sicherheitspolitischen Zielen, zum Beispiel große Investitionen in neue Infrastruktur für fossile Brennstoffe wie neue LNG-Terminals. Solchen „carbon lock-in“ würden wir gerne vermeiden, aber in der Abwägung der energiepolitischen Ziele begründet die aktuelle Krise auch solche Maßnahmen.
Erstunterzeichner:innen und Autor:innen sind Lion Hirth, Hertie School und Neon Neue Energieökonomik; Christoph Maurer, Consentec; Oliver Ruhnau, Hertie School; Ingmar Schlecht, Neon Neue Energieökonomik und ZHAW Winterthur; Hanns Koenig, Aurora Energy Research; Silvana Tiedemann, Hertie School; Ilan Momber, Digitalprojekt 4 GmbH; Christian Flachsland, Hertie School; Julius Ecke, Enervis Energy Advisors; Anselm Eicke, Hertie School