Der Krieg in der Ukraine und die Energiepreiskrise haben deutlich gemacht wie stark die EU-Mitgliedstaaten vor allem im Bereich Erdgas von Importen abhängig sind. Die EU muss rund 88 Prozent ihres Erdgases importieren. Davon erhält sie rund 40 Prozent aus Russland, in Deutschland liegt der Anteil sogar bei knapp über 50 Prozent. Als Sanktionsmittel von Seiten der EU gegenüber Russland ist anzumerken, dass Gas bislang nur einen geringen Anteil an den Erlösen aus dem Energieexport Russlands ausmacht. Dagegen entsprechen die Erlöse aus dem Erdölexporten circa 40 Prozent des russischen Staatshaushaltes (gegenüber etwa acht Prozent im Bereich Gas).
Der Ruf nach der Ausweitung der Sanktionen auf den Energiebereich und damit einem schnellen Abbau dieser Abhängigkeit von russischem Gas wird trotzdem immer lauter. Die Diskussion kreist dabei um die Frage, ob Laufzeitverlängerungen von Atom- und Kohlekraftwerken als schnelle Lösung zur Kompensation des Erdgasimports eingesetzt werden können. Doch ganz so einfach sind die Gegenmaßnahmen nicht. Das hängt mit der Nutzung der Gasimporte zusammen, denn Gas ist durch sein Nutzungsportfolio im Norden Europas ein stark saisonales Gut.
In Deutschland werden rund 50 Prozent des Erdgases für das Heizen privater und kommerzieller Räume genutzt. Rund 35 Prozent der Nutzung entfällt auf die Industrie und nur rund 15 Prozent entfallen auf die Stromproduktion. Eine kurzfristige Laufzeitverlängerung von Kernenergie zur Überbrückung der nächsten zwei oder drei Jahre oder eine kurzfristige Erhöhung der Kapazitäten der Kohlekraftwerke löst das Problem daher nicht, da es lediglich für einen Bruchteil der Ausfälle eingesetzt werden kann. Berechnungen, die zurzeit davon ausgehen, dass Deutschland die Ausfälle der Gaslieferungen aus Russland kompensieren kann, gehen von der nicht korrekten Annahme aus, dass sich die Nutzung zu je einem Drittel auf Heizen, Industrie und Strom verteilt.
Russisches Gas kann nicht ersetzt werden
Zur Substitution des russischen Gases in der EU stehen zudem nicht ausreichend Kapazitäten durch andere Anbieter oder den LNG-Markt zur Verfügung. Nach Russland sind dies vor allem Norwegen, dessen Beitrag am Import in die EU meist um die 20 Prozent schwankt. Dazu kommt Algerien (um die zehn Prozent) und kleinere Importmengen aus Libyen und Aserbaidschan.
Wenn man davon ausgeht, dass vor allem Norwegen und Algerien beständig im Bereich ihrer Maximalwerte der letzten sieben Jahre liefern könnten, dann könnten diese beiden Länder um die 39 Prozent der notwendigen Importe abdecken. Der Anteil der bisherigen LNG-Lieferungen in den Jahren 2015 bis 2020 in die EU beliefen sich auf um die 20 Prozent. In den ersten Wochen 2022 sehen wir eine enorme Steigerung der LNG-Lieferungen. Wenn wir davon ausgehen, dass es möglich ist, in diesem Umfang weiterhin LNG Lieferungen zu erhalten, dann würde das gemeinsam mit den höheren Lieferungen aus Norwegen und Algerien zu einer Abdeckung von maximal 74 Prozent des EU-Bedarfes reichen.
Eine weitere Steigerung der LNG Lieferungen ist aufgrund vielfältiger Gründe kurzfristig nicht möglich. Zum einen sind nicht genug freie LNG-Angebote auf dem Markt erhältlich, da gerade in Südostasien längerfristige Lieferbeziehungen einen guten Teil des Marktes binden. Saisonale Schwankungen sind hier schwer zu kalkulieren. Zum anderen fehlt es an Kapazitäten im Bereich der Terminal- und Re-Gasifizierungsanlagen sowie des Transports.
Ein Rückgriff auf die Terminalkapazitäten vor allem auf der iberischen Halbinsel wird aufgrund fehlender Pipelinekapazitäten in der Anbindung an die Mitte und den Norden Europas gerade für Deutschland eher schwierig werden. Neue Bauprojekte in Brunsbüttel und Stade, eventuell auch Wilhelmshafen, sind hier als mittelfristige Lösungen einzustufen.
Eine große Rolle, zumindest für die kurzfristige Überbrückung des nächsten Winters, wird die Frage der Gasreserven spielen. Die deutschen Speicher sind seit Anfang März nur noch zu etwa einem Viertel voll, wobei vor allem die Gazprom-Speicher (25 Prozent der deutschen Speicher) zu lediglich fünf Prozent gefüllt sind.
Um diese Speicher für den Winter nutzen zu können, müsste jetzt Gas nach der Heizperiode eingelagert werden. Dem kommen die derzeitige Wetterlage und die Prognose eines baldigen Endes der kalten Jahreszeit zwar entgegen, doch spricht der explodierte Gaspreis gegen ein wahrscheinliches Auffüllen. Nur ein nahezu hundertprozentiges Auffüllen der Speicher könnte zur Überbrückung des Winters maßgeblich beitragen, wenn auch die Lücke damit nicht gänzlich gedeckt würde.
Wenn all die nun genannten optimistischen Annahmen einträfen – konstant höhere Lieferungen aus Norwegen und Algerien, ein konstant hohes LNG-Volumen und randvolle Speicher, dann würde nur ein kleiner Prozentsatz an Gasnachfrage nicht abgedeckt werden können. Da das Abschalten der Gasversorgung nach Prioritäten geht, würde dies zuerst die Industrie treffen. Hier wäre mit hohen wirtschaftlichen Kosten ab der nächsten Heizperiode in diesem Jahr zu rechnen.
Wesentlich wahrscheinlicher ist jedoch, dass eine oder sogar alle der optimistischen Annahmen nicht so wie erhofft eintreten. Dann würden die Kosten für die deutsche Industrie sprunghaft ansteigen. Diese wird dann von längerfristigen Abschaltungen betroffen sein. Auf die vorausschauende freiwillige Einsparung von Gas im Bereich Wärme zu bauen, wie es einige der Kalkulationen nun als Randbedingung einführen, scheint dann doch eher naiv zu sein.
Zu starker Fokus auf CO2-Preise
Die von Russland erwogene Schließung von Nord-Stream 1 ist noch keine wirkliche Drohung. Deutschland bekommt Gas aus drei russischen Gasleitungen. Seit einem halben Jahr bediente Russland hauptsächlich Nord Stream 1, erst mit dem Krieg wurden die Leitungen über die Ukraine und die Jamal-Pipeline über Polen wieder etwas hochgefahren. Ein Abschalten von Nord-Stream 1 allein könnte durch die beiden anderen Leitung kompensiert werden.
Mittelfristig ist die Strategie zur Bewältigung einer Abkehr von russischem Gas offensichtlich. Hier liegt die klare Priorität der notwendigen Maßnahmen auf der Elektrifizierung der Heizungen, die in Deutschland zu 50 Prozent durch Gas betrieben werden, gepaart mit Energieeffizienzmaßnahmen, um massive Energie im Wärmebereich einzusparen.
Einhergehen muss diese Elektrifizierung mit dem schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien, um den Kohle- und Atomausstieg zu kompensieren und den verstärkten Strombedarf durch die Elektrifizierung zu bewältigen. Dabei wird deutlich, dass die zu starke Konzentration der Diskussion auf CO2-Preise in den letzten Jahren zeitweilig den Blick auf notwendige Investitionen in Erneuerbare und Energieeffizienz und deren Förderung als zentrales Steuerinstrument verstellt hat.
Ein zu starker Fokus allein auf die Anschaffung von Wärmepumpen, um schnell zu elektrifizieren, kann sowohl die Verteilnetze überlasten (und somit an der Infrastruktur scheitern) als auch die Besitzer von unsanierten und ungedämmten Häusern in den Betriebskosten viel zu stark belasten. Dieser Effekt wird dadurch erhöht, dass die Umverteilung vieler Stromkunden durch Insolvenzen auf die Grundversorger dazu geführt hat, dass die günstigeren Stromtarife für Wärmepumpen nicht weiter angeboten werden. Direktelektrifizierung im Altbaubereich ohne Energieeffizienzmaßnahmen ist daher keine Lösung, hier muss die Bundesregierung den Effizienzförderbereich eher ausbauen als durch kurzfristiges Anhalten der Förderung aufgrund von zu vielen Anträgen die Investoren in energetische Sanierung zu verunsichern.
Gleiches gilt für die Vorschläge der EU-Kommission, die gerade den Effizienzbereich in ihrem Plan für eine stärkere Unabhängigkeit vom russischen Gas vernachlässigt. Die mittelfristigen Pläne liegen dabei schon längst mit dem Fit-for-55 Paket vor – hier fehlt es an den Kompetenzen der EU diese auch verbindlich in den Mitgliedstaaten durchzusetzen. Das Instrument dazu – eine Verschärfung der Governance-Verordnung steht weiterhin nicht auf der Agenda der EU.
Prof. Dr. Michèle Knodt vom Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt beschäftigt sich im Cluster-Projekt „Clean Circles“ mit der Politik und Governance der Speicherung von Energie in Eisen und im Kopernikus Projekt mit der Governanceperspektive des Energiesystems, europäischer Energiegovernance und Wasserstoffgovernance.