Nach der russischen Invasion in der Ukraine hat die EU aktiv daran gearbeitet, ihre Abhängigkeit von russischen Energiequellen, einschließlich Kernbrennstoff, zu verringern. Derzeit sind in der EU 19 Kernreaktoren sowjetischer Bauart mit WWER-Technologie in Betrieb, die in der Vergangenheit auf russischen Kernbrennstoff angewiesen waren. Alle Betreiber dieser Reaktoren haben jedoch bereits Verträge mit alternativen Lieferanten wie dem US-amerikanischen Unternehmen Westinghouse oder dem französischen Anbieter Framatome unterzeichnet.
Doch trotz dieser Fortschritte besteht ein eklatanter Widerspruch: In Deutschland – einem Land, das unter den europäischen Staaten führend ist bei der Unterstützung der Ukraine – versuchen Framatome und der russische Rosatom-Konzern, ein Gemeinschaftsunternehmen zur Herstellung von Kernbrennstoff im niedersächsischen Lingen aufzubauen.
Diese Partnerschaft bedroht die europäische Sicherheit und Energieunabhängigkeit. Sie ermöglicht Russland die Umgehung von Sanktionen und den Zugang zu wichtigen finanziellen Ressourcen, mit denen es seinen Krieg gegen die Ukraine vorantreiben kann. Das Lingen-Projekt könnte Russland als versteckte Finanzpipeline dienen, denn die Ausfuhr von Kernbrennstoff für europäische WWER-Reaktoren hat Rosatom bisher jährlich zwischen 300 und 700 Millionen Euro eingebracht. Selbst wenn ein Teil dieser Gelder nun bei Framatome verbleibt, wird Rosatom immer noch erhebliche Lizenzzahlungen erhalten, wodurch es auf dem europäischen Nuklearmarkt verankert bleibt.
Strategische Risiken und Spionagegefahr
Das Rosatom-Framatome-Projekt steht wegen möglicher Industriespionage- und Sabotagebedrohungen durch russische Spezialisten unter Beobachtung. Im November 2024 gab es bei einer öffentlichen Erörterung dieses Projekts in Lingen rund 11.000 Einsprüche wegen Sicherheitsrisiken. Der niedersächsische Umweltminister hat sich öffentlich hinter die Proteste gestellt und ernste Bedenken hinsichtlich der Risiken geäußert. Trotzdem steht eine endgültige Entscheidung über die Genehmigung der Anlage noch aus, sie wird durch rechtliche Schwierigkeiten und das allgemeine politische Klima verzögert.
Framatome kämpft derzeit um die Erfüllung seiner vertraglichen Verpflichtungen in der Slowakei und in Ungarn und versucht gleichzeitig, Marktanteile zu halten, die andernfalls an Westinghouse gehen könnten. Framatome verfügt jedoch nicht über eine eigene Technologie für WWER-Brennstoff und ist deshalb weiterhin auf die Zusammenarbeit mit Rosatom angewiesen – eine Beziehung, die bis in die 1990er Jahre zurückreicht. Russland ist nach wie vor ein wichtiger Lieferant von Uran und Brennstoffpellets für die Lingener Framatome-Tochtergesellschaft ANF. Im Jahr 2024 hat Deutschland seine Einfuhren von russischem Uran im Vergleich zu 2023 um 70 Prozent erhöht auf mindestens 68,6 Tonnen.
Alternativen zu russischem Kernbrennstoff
Bei dem angestrebten Gemeinschaftsunternehmen Framatome-Rosatom werden alle Schlüsselkomponenten unter der Kontrolle von Rosatom stehen, einer staatlichen Einrichtung eines Landes, das an militärischen Aggressionen und nuklearen Erpressungen beteiligt ist. In Kriegszeiten, in denen Russland die Kernenergie als Druck- und Sabotagemittel in der Ukraine einsetzt hat, stellt ein solches Szenario eine direkte Bedrohung für die Sicherheit der EU dar. Wenn russische Komponenten und Technologien in die europäische Produktion gelangen, steigt das Risiko von Sabotage und nuklearer Bedrohung für die gesamte EU. Darüber hinaus sind russische Technologien zur Herstellung von Kernbrennstoffen in Russland selbst die Ursache für erhöhte Strahlungswerte in einem großen Gebiet um das Kernbrennstoffwerk in Elektrostal bei Moskau.
Die EU finanziert Initiativen zur Schaffung alternativer Kernbrennstoffquellen wie das Programm APIS (Accelerated Program for Implementation of Secure Fuel Supply for VVERs) und das Programm SAVE. Aber sie hat noch keine Sanktionen gegen russischen Kernbrennstoff verhängt. Dieses rechtliche Schlupfloch ermöglicht es Framatome, weiterhin mit Rosatom zusammenzuarbeiten – trotz der allgemeinen Politik der EU, die Beziehungen zu russischen Energielieferanten zu kappen.
Während der Wettbewerb zwischen Westinghouse und Framatome ein positiver Faktor für die europäische Energiesicherheit ist, erschweren politische Entscheidungen bestimmter Länder, wie beispielsweise Ungarn die Bemühungen, den russischen Einfluss zu beenden.
Die EU muss handeln
Das Ignorieren der Risiken, die aus der Abhängigkeit von russischer Nukleartechnologie entstehen, ist nach wie vor ein großes Problem, und die Zukunft des Framatome-Rosatom-Projekts gibt noch mehr Anlass zur Sorge. Diese Zusammenarbeit ist als gefährliche Strategie zu bewerten, denn die Abhängigkeit von Rosatom ermöglichte es dem Kreml, Einfluss auf eine kritische Infrastruktur Europas zu nehmen. Ein konkretes Beispiel ist Ungarn, das nach wie vor stark von russischem Gas, Öl und Kernbrennstoff abhängig ist. Sein einziges Kernkraftwerk, das AKW Paks, verwendet ausschließlich russischen Brennstoff, und die Regierung drängt weiterhin auf den Bau neuer Reaktorblöcke mit russischer Technologie.
Die Energie- und Nuklearsicherheit Europas erfordert entschlossenes Handeln, um neue Risiken zu vermeiden, die sich aus Projekten wie der von Rosatom lizensierten Kernbrennstoffproduktion in Lingen ergeben. Die EU darf nicht warten, bis die Bedrohung zu konkretem Schaden führt. Sie muss einen vorsichtigen und koordinierten Ansatz verfolgen, um sicherzustellen, dass Nukleartechnologie der europäischen Energieunabhängigkeit dient und nicht Moskau als geopolitische Waffe.