Herr Kehler, die Initiative „Zukunft Erdgas“ trägt dazu bei, einen fossilen Energieträger möglichst lange im Markt zu halten. Ist das wirklich sinnvoll?
Mit der Frage haben wir uns selbst intensiv auseinandergesetzt. Denn wir wissen natürlich, dass bei der Verbrennung von Erdgas CO2 entsteht. Und wenn wir die Ziele des Pariser Klimaabkommens ernst nehmen, müssen wir hierfür langfristig eine Lösung finden.
Aber klar ist auch: Beim Thema Klimaschutz sprechen wir erst einmal nicht über weniger Erdgas, sondern über mehr. Der Anteil in unserem Energiemix wird wachsen. Deutschland will die Kohle schrittweise reduzieren. Gleichzeitig brauchen wir eine gesicherte Grundlast, um die fluktuierenden Erneuerbaren in der Stromerzeugung abzusichern. Und da dient ein vergleichsweise CO2-armer und flexibler Energieträger wie Erdgas wie ein Schweizer Taschenmesser für die verschiedenen Sektoren. Irgendwann wird die letzte Tonne CO2 in Deutschland erzeugt sein. Wenn diese letzte Tonne aus der Verbrennung von Erdgas entstanden ist, haben wir alles richtiggemacht.
Auf dem Weg dorthin müssen wir uns jedoch in der Tat Gedanken darüber machen, wie wir den erforderlichen Anteil an grünem Gas integrieren.
Der Übergang zum grünen Gas wird als Joker gezogen, wenn die Kritik am CO2-Ausstoß von Erdgas kommt. Wie stellen Sie sich diesen Übergang vor?
Wir haben vor zehn Jahren bereits damit angefangen. Biomethan war ein erster Schritt in Richtung „Gas kann grün“. Dadurch haben wir viel Erfahrung darüber sammeln können, wie man Biogas so aufbereitet, dass man es ins Gasnetz einspeisen kann. Das Ergebnis: An unseren Erdgastankstellen wird heute im Durchschnitt 15 Prozent grünes Gas beigemischt. Einige Tankstellen bieten sogar 100 Prozent Biomethan an.
Zusätzlich ist die Branche seit einigen Jahren dabei, das Potenzial von Power-to-Gas zu erschließen – durch die Erzeugung von Wasserstoff sowie die weitere Umwandlung des Wasserstoffs in synthetisches Methan, den regenerativen Zwilling von Erdgas.
Wie werden die Investitionen in Power-to-Gas angereizt?
Ein rohstoffarmes Industrieland wie Deutschland wird langfristig auf Energieimporte angewiesen sein. Das heißt, wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, wie wir unsere Importe so gestalten, dass zukünftig auch grünes Gas nach Deutschland kommt. Wir fragen unsere Gasproduzenten deshalb ganz direkt: Was macht ihr, wenn Deutschland den Pfad der Dekarbonisierung bis zum Ende geht? Die positive Nachricht: Wir stellen fest, dass allein diese Frage zu stellen schon viel bewirkt und Forschungsaktivitäten auslöst.
Ein interessantes Beispiel können wir aktuell im englischen Leeds beobachten. Dort wird derzeit an einem Projekt gearbeitet, das vorsieht, die Gasversorgung der Stadt perspektivisch auf Wasserstoff aus Norwegen umzustellen. Wir gehen davon aus, dass eine veränderte Nachfrage auch zu einem veränderten Angebot bei unseren Rohstofflieferanten führen wird und die Angebotsmöglichkeiten verbreitert.
Wasserstoff ist in die bestehende Infrastruktur aber nicht so einfach zu integrieren. Es gibt Schlupf und Korrosion. Wie kann man sich das im großen Stil vorstellen?
Wir haben hier in Berlin mehr als 170 Jahre Erfahrung mit einem Gasnetz, das bis vor 25 Jahren einen Wasserstoffanteil von mehr als 50 Prozent aufwies. Das heißt: Wasserstoff im Gasnetz ist für die Branche weniger eine Innovation als vielmehr ein alter Hut. Natürlich gibt es technische Herausforderungen, die wir angehen müssen. Diese sind aber lösbar. Das Gasnetz ist in der Lage, erhebliche Mengen Wasserstoff aufzunehmen. Wir müssen uns Schritt für Schritt die Beimischungsmengen erschließen, die technisch und mit entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen realisierbar sind. Eines bestätigen uns alle Ingenieure: Die heutigen Grenzen der Beimischung lassen sich deutlich nach oben verschieben.
Die Grenzen liegen heute wo?
Aktuell kann dem Erdgasnetz bis zu zwei Prozent Wasserstoff zugefügt werden. Diese Begrenzung entsteht durch die schwächsten Glieder in der Versorgungskette, beispielsweise durch die Gastanks von Erdgasfahrzeugen, die derzeit nicht mehr Wasserstoff vertragen. Das Netz selbst ist heute auf rund zehn Prozent ausgelegt. Aber selbst zwei Prozent sind in Anbetracht der gigantischen 230 Gigawattstunden Speicherkapazitäten, die das deutsche Gasnetz zur Verfügung stellt, im Vergleich zu heutigen Speichern für erneuerbare Energien, wie beispielsweise Batterien, ein großer Schritt in die richtige Richtung. Hier schlummert enormes Potenzial, erneuerbare Energie langfristig zu speichern. Und das über das gesamte Jahr hinweg. Etliche Gigawattstunden sind kein Problem. Dieses Potenzial sollten wir erst einmal erschließen.
Wenn das Gas erneuerbar in sonnenreichen Ländern produziert werden soll, müsste man auch an Regionen denken, die politisch instabil sind. Halten Sie es für realistisch, dass dort in großem Maßstab investiert wird?
Wir haben heute bereits starke Gasexporteure, die zudem mit Sonne gesegnet sind, beispielsweise Algerien oder Katar. Diese verfügen schon über die notwendige Infrastruktur und sind dadurch sehr gut in der Lage, das fossile Erdgas, das sie heute verkaufen, zukünftig durch erneuerbare Gase zu ersetzen. Damit sind sie gegenüber Projekten wie Desertec, die eine komplett neue Infrastruktur erfordern, klar im Vorteil. Energie in Form von Molekülen lässt sich viel besser transportieren als Energie in Form von Elektronen.
Heutzutage gibt es nur einige Stunden pro Jahr negative Strompreise, in denen Elektrolyseure kostengünstig aus Überschussstrom Wasserstoff erzeugen könnten. Die Anlagen müssten aber rund um die Uhr laufen, um sich zu rechnen. Wie kann so ein Energiesystem in Gang kommen?
Diese Frage haben wir uns auch gestellt und deshalb die Betreiber der rund 30 deutschen Power-to-Gas Anlagen nach ihren Erfahrungen gefragt. Das Ergebnis: Alle berichten von überraschenden technischen Fortschritten bei Kosten, Flexibilität und Wirkungsgraden.
Auch auf Verfahrensseite ist noch viel Bewegung zu sehen: Neben den klassischen chemischen Erzeugungsmethoden drängen jetzt auch biologische Verfahren in die Debatte hinein. Eines unserer Mitglieder, die österreichische RAG, erforscht beispielsweise in dem Projekt „Underground Sun Conversion“, wie man einen Gasspeicher so nutzen kann, dass Mikroorganismen die eingebrachten Stoffe CO2 und Wasserstoff zu Methan verdauen.
Die Erfahrungen lassen uns hoffen, dass wir bei der Power-to-Gas Technologie ähnliche Degressionen sehen werden wie zuvor bei anderen erneuerbaren Projekten. Die heutigen Anlagen arbeiten im Megawatt-Maßstab. Für die Energiewende brauchen wir aber Gigawatt-Anlagen. Wir stehen also erst am Anfang der Entwicklung.
Das EU-Parlament hat kürzlich beschlossen, dass Europa bis 2050 klimaneutral sein soll. Schafft es die Erdgasindustrie, bis dahin grün zu werden?
Das ist eine schwierige Aufgabe, und zwar für alle Sektoren. Deswegen ist es umso dringender, uns jetzt der Lösung zu nähern. Die technischen Zutaten haben wir in der Hand. Was wir jetzt brauchen, ist eine konsequente Klimaschutzpolitik. Das Thema CO2-Einsparung muss endlich in den Mittelpunkt rücken. Wir brauchen ein Szenario, in dem CO2-Einsparungen marktwirtschaftlich ausgelöst werden. Das führt uns zu der Frage, ob wir einen CO2-Preis brauchen. Wir sagen klar: Ja, natürlich brauchen wir den! Das ist das Instrument, das uns in die Zukunft lenken wird.
Unter diesen Voraussetzungen können Sie zusagen, dass 2050 nur noch grünes Gas im Netz ist?
Wenn wir tatsächlich so einen Rahmen setzen, ist grünes Gas wertvoller als viele andere Energieträger. Und dann sind wir weiter im Geschäft.
Noch ein ganz anderes Thema: Wie sehen Sie die Entwicklung bei LNG?
LNG ist der große „game changer“ im globalen Gasgeschäft. Heute können sich Gaskunden LNG per Schiff liefern lassen. Das hat dazu geführt, dass sich die Märkte deutlich diversifiziert haben. Der globale Gaspreis konnte dadurch stabil bleiben beziehungsweise sogar leicht sinken. Und es hat dafür gesorgt, dass die klassischen Pipelineproduzenten neuen Wettbewerb bekommen haben. LNG kauft man heute nicht nur in den USA, sondern auch in Katar, Algerien, Australien und Südafrika.
Daher sollten wir als Europa dafür Sorge tragen, dass wir uns nicht auf einen LNG-Anbieter festlegen, sondern als einer der größten Energieimporteure der Welt unsere Marktmacht nutzen, um bestmöglich einkaufen zu können. Wir sollten daher die innereuropäische Pipeline-Infrastruktur weiter ausbauen, damit alle europäischen Gasmärkte auch die Potenziale der bestehenden LNG-Importterminals, die aktuell nur schwach ausgelastet sind, nutzen können.