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Standpunkte Besser unvollkommene Biodiversitätsmaßstäbe als Untätigkeit

Jörg Rocholl, Professor und Präsident der European School of Management and Technology (ESMT) in Berlin
Jörg Rocholl, Professor und Präsident der European School of Management and Technology (ESMT) in Berlin Foto: ESMT Berlin

Die Wirtschaftswissenschaften sollten den Naturverlust nicht länger ignorieren, sondern Biodiversität als ökonomische Grundlage betrachten und dazu beitragen, das Marktversagen zu korrigieren und die Natur zu erhalten, meint Jörg Rocholl, Professor und Präsident der European School of Management and Technology (ESMT) Berlin. Unternehmen und Investoren sollten besser nicht perfekte Maßstäbe anwenden als untätig zu bleiben.

von Jörg Rocholl

veröffentlicht am 13.07.2023

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Die Klimakrise steht angesichts von Dürren, Unwettern und Überschwemmungen im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Im Vergleich dazu fristet der Verlust an Biodiversität bisher eher ein Schattendasein – und das, obwohl Studien auf globaler Ebene zeigen, dass der Verlust der Artenvielfalt ebenso folgenreich ist wie der Temperaturanstieg.

Der Klimawandel und seine Folgen sind auch deutlich besser erforscht als der Verlust der Biodiversität: Wissenschaftliche Veröffentlichungen zur biologischen Vielfalt summieren sich auf weniger als zehn Prozent derer zu Klimaschutzpublikationen. Und dies, obwohl Studien des Weltbiodiversitätsrats IPBES und des Weltklimarats IPCC deutlich darauf hinweisen, dass beide Krisen unmittelbar miteinander verknüpft sind.

Mit der Weltnaturkonferenz (CBD COP 15) in Montreal im Dezember 2022 ist die Biodiversität immerhin deutlich stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Im Vorfeld hatten sich Vertreterinnen und Vertreter von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft in Deutschland im November 2022 in der Frankfurter Erklärungfür natur-positives unternehmerisches Handeln“ ausgesprochen. Doch wie kann dieses so drängende Thema schnellstmöglich nach oben auf die politische Agenda rücken? Drei Schritte sind dafür jetzt wichtig.

1. Marktversagen entgegen wirken

Das reibungslose Funktionieren von Märkten beruht auf einer Reihe wesentlicher Voraussetzungen. Dazu gehört, dass perfekte Informationen vorliegen, keine Marktmacht existiert und keine externen Effekte auftreten. Bei der Biodiversität sind diese Voraussetzungen in der Regel nicht erfüllt. Wir haben also keine umfassenden Erkenntnisse darüber, welche Folgen der Verlust eines bestimmten Grades an biologischer Vielfalt hat. Gleichsam sind negative externe Effekte des Wirtschaftens auf biologische Vielfalt weit verbreitet.

Die Wirtschaftswissenschaften könnten dazu beitragen, das daraus resultierende Marktversagen zu korrigieren, indem sie die Regulierung beleuchten, neue Anreize anstoßen, Verteilungseffekte betrachten und wie damit umgegangen wird. Gleichzeitig muss mögliches Politikversagen adressiert werden, das Anreize für Lobbying und andere naturschädliche Aktivitäten eröffnet. Es gibt mindestens ein beziehungsweise mehrere Marktversagen, die eines staatlichen Eingriffs bedürfen.

Ähnlich wie beim Klimawandel ist überdies bei der Biodiversität zu klären, wie die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kosten sichtbar zu machen sind, die durch (Über-)Nutzung der Umwelt verursacht werden. Die Bepreisung von Biodiversitätsverlusten ist bedeutsam, auch um finanzrelevante Entscheidungen treffen zu können. Die Klimakrise lässt sich bei aller Komplexität wesentlich durch zwei Indikatoren erfassen, den CO2-Ausstoß und den globalen Temperaturanstieg. Bei der Biodiversität ist diese Quantifizierung mühsamer, denn sie erfordert die Betrachtung verschiedener Ökosysteme mit Millionen von Pflanzen und Tieren.

Wenn eine bestimmte Tierart (wie die gerade bei der Ansiedlung von Industrieflächen in Deutschland häufig genannte Zauneidechse) ausgerottet ist, ist nicht klar, welche konkreten Folgen damit für die Natur und die Wirtschaft verbunden sind. Ebenso schwierig ist die Antwort auf die Frage, wie genau die Wirkung von einem vernichteten Quadratkilometer Regenwald zu beziffern ist. Aus diesen Gründen gibt es im Gegensatz zur Klimakrise hinsichtlich des Erhalts der Artenvielfalt keinen dem CO2-Preis vergleichbaren Mechanismus. Hier muss die Wissenschaft Grundlagen erarbeiten. Zudem sind Ökonomen gefordert, sich mit naturwissenschaftlichen Fakten zu befassen und aufzugreifen.

2. Biodiversität als Voraussetzung für ein funktionierendes Wirtschaftssystem anerkennen

Die Naturwissenschaften weisen bereits seit längerer Zeit auf die besondere Dreiecksbeziehung zwischen Klimawandel, Eingriffen in Ökosysteme und Pandemien hin: Ökosysteme werden durch den Klimawandel geschädigt und können dann nur noch in geringerem Umfang als Klimapuffer dienen. Und der Mensch verdrängt Wildtiere und vernichtet biologische Vielfalt, was letztlich entscheidend zum Ausbruch von Pandemien beiträgt, die Menschen und Ökonomien stark belasten. Diese Wechselwirkung zwischen beeinträchtigter Biodiversität und Pandemiegeschehen illustriert eindrücklich, wie nachhaltiges Wirtschaften von einer intakten Natur abhängt – und umgekehrt.

Pandemien untergraben die genuinen Möglichkeiten des Wirtschaftens, wie wir es weltweit in der Corona-Pandemie erfahren mussten. Viren kommen nicht unvermittelt aus der Wildnis in unsere Städte, sondern erst die Interaktion von Menschen mit der Natur schafft für bestimmte Virenarten die idealen Voraussetzungen zur Verbreitung.

Natur zu schützen heißt deshalb auch, unser Gesundheits- und Wirtschaftssystem zu schützen. Biodiversität ist also ein wichtiger Indikator und Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg. Denn nur mit einer sich intakt entwickelnden Natur kann Wirtschaft auch langfristig für Wohlstand sorgen.

3. Interdisziplinäre Zusammenarbeit unerlässlich und dringend notwendig

Es bedarf aus genannten Gründen einer viel engeren Kooperation zwischen verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen. Vor allem Klimawissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Biodiversitätsforschung sind gefordert, neue Erkenntnisse zu erzielen, die die einzelnen Disziplinen allein nicht erbringen können. Wir brauchen Antworten auf folgende Fragen: Welches wirtschaftliche Handeln verringert konkret die Artenvielfalt? Wie kann diese Art des Wirtschaftens stärker für ihre schädlichen Folgen zur Rechenschaft gezogen werden? Durch welche Maßnahmen ist naturpositives Wirtschaften möglich?

Eine stärkere Berücksichtigung der Nutzung von Wald, Land, Wasser und Meeren in der unternehmerischen, verpflichtenden Berichterstattung könnten wichtige erste Impulse geben. Die Frankfurter Erklärung und das Globale Rahmenabkommen zur Biodiversität von Montreal weisen daher darauf hin, dass Unternehmen offenlegen sollen, wie sich ihre wirtschaftlichen Aktivitäten auf die Biodiversität auswirken. Diese Offenlegung erfordert einen Konsens über die schädlichen Aktivitäten und deren Konsequenzen.

Besser unvollkommene Maßstäbe als gar keine

Eine enge interdisziplinäre wissenschaftliche Zusammenarbeit ist dafür zwingende Voraussetzung. Sie ist jetzt dringend notwendig, um exakte Maße und Metriken zu finden. Solange wir diese Maßstäbe noch nicht haben, müssen wir getreu der Annahme handeln: Besser unvollkommene Maßstäbe als keine Maße anwenden. Und vor allem müssen wir die derzeitige Untätigkeit überwinden.

Zahllose Beispiele zeigen, wie relevant der Erhalt und die Wiederbelebung der Biodiversität ist, um die planetaren Grenzen einzuhalten. Dies erfordert ein enges Zusammenwirken von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Die ambitionierten Ziele und angestrebten finanziellen Mittel, um die Beschlüsse von Montreal umzusetzen, sind nur durch die enge Kooperation dieser verschiedenen Bereiche und Disziplinen sinnvoll erreichbar. Deshalb müssen Ansätze wie die Frankfurter Erklärung ausgebaut und ausgeweitet werden.

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