Wir brauchen das europäische Naturwiederherstellungsgesetz. Wir als Bürger, Steuerzahler, Nutzer der Natur, als Menschen. Wem der Erhalt der Artenvielfalt wichtig ist, sollte das offiziell Verordnung zur Wiederherstellung der Natur genannte, hoffentlich bald EU-weit gültige Gesetz unterstützen (Tagesspiegel Background berichtete). Deshalb haben wir einen Offenen Brief geschrieben, dem sich inzwischen mehr als 3.330 Wissenschaftler EU-weit angeschlossen haben.
Am 15. Juni 2023 hat das EU-Parlament beschlossen, das NRL nicht von der Tagesordnung zu nehmen, sondern weiter einen Änderungsantrag nach dem anderen zu verhandeln, viele mit der Absicht, die Verordnung zu verwässern. Sieht man sich die seit Wochen andauernde öffentliche Kampagne der Europäischen Volkspartei (EVP), der Parteienfamilie von CDU/CSU, gegen dieses Gesetz an, so werde ich als Wissenschaftler nervös: Die EVP-Kampagne besteht aus lauter fragwürdigen Erzählungen, die einseitig sind und vielfach ohne jeden Beleg dastehen. Eine vernünftige Abwägung von Zielen und Interessen kann ich nicht erkennen.
Fragwürdige Erzählungen der EVP
Die erste fragwürdige Erzählung betrifft die Ziele des Naturwiederherstellungsgesetzes. Das Hauptziel besteht darin, den Zustand der Natur in verschiedenen Lebensräumen zu verbessern, und zwar in verschiedenen Lebensräumen, von Agrar- und Offenland, über Moore, Waldökosysteme, Flüsse, Meere bishin zu urbanen Räumen. Und das NRL bezieht andere Naturschutzrichtlinien wie die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH) mit ein. Es geht also nicht, wie von der EVP behauptet, um neue Naturschutzgebiete. Vielmehr greift die Verordnung ein zentrales Problem auf: Das Vollzugsdefizit in existierenden Naturschutzgebieten, seit Jahrzehnten beispielsweise an der Wirksamkeit der FFH-Richtlinie zu beobachten, ist ein zentraler Hemmschuh für den Erhalt der Artenvielfalt.
Laut dem Bericht zur „Lage der Natur“ des Bundesumweltministeriums von 2020 sind 69 Prozent der geschützten FFH-Lebensräume entweder in „ungünstig-unzureichendem“ oder in „ungünstig-schlechtem“ Zustand, der Zustand der Populationen geschützter Arten sieht ähnlich aus. Wir schützen zwar die Gebiete, rund neun Prozent der Landfläche in Deutschland. Aber in den Gebieten nehmen wir unsere eigenen Gesetze nicht ernst, investieren zu wenig und bieten den dortigen Landnutzer*innen nichts an.
Verfall ohne öffentliche Wahrnehmung
Und dieser Verfall findet fernab der öffentlichen Wahrnehmung statt. Das Naturwiederherstellungsgesetz soll damit Schluss machen. Es verpflichtet die Mitgliedsstaaten, die Lage in diesen Gebieten zu verbessern. Und es verlangt Berichte über messbare Indikatoren. Wenn wir nicht weiter wursteln wollen wie bisher, müssen wir in Artenvielfalt investieren und die europäischen Gesetze ernst nehmen.
Die zweite Linie der fragwürdigen Erzählungen besagt, dass die Verordnung einem Bewirtschaftungsverbot gleichkäme. Es könne dann beispielsweise keine Landwirtschaft in Naturschutzgebieten mehr betrieben werden – eine ziemliche Verkürzung der Realität. Es gibt zwar Einzelfälle, etwa im Weinbau, in denen das Gesetz hart ist. Hier wären tatsächlich Kompromisse wichtig. Aber im Gros der Naturschutzgebiete ist Landwirtschaft möglich, ja sogar notwendig, weil sonst die seltenen, an extensive Bewirtschaftung angepassten Arten verschwinden.
Ohne eine regelmäßige Schnittnutzung oder Beweidung gibt es schließlich keine Artenvielfalt auf Gebirgswiesen. Für die Betriebe lohnt sich diese Bewirtschaftung häufig kaum. Deshalb ist es auch wichtig, die Frage zu stellen, wie wir Landwirtschaft in Regionen unterstützen können, in denen sich eher selten eine goldene Nase verdienen lässt. Interessanterweise verweigert sich die EVP dieser Frage und beharrt weiterhin auf ihrer Agrar-Gießkannenförderung, statt die Mittel der sogenannten Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU stärker auf Umweltziele und den Arten- und Klimaschutz zu fokussieren.
Wenn uns als Gesellschaft Artenvielfalt und eine angepasste extensive Bewirtschaftung wichtig ist, sollten wir dafür bezahlen. Und wir brauchen nicht nur Förderung, sondern vor allem auch Beratung sowie einen Abbau der inzwischen sehr kleinkariert vorgehenden Förderbürokratie.
Arbeitsplätze als schlechtes Argument
Die dritte Linie fragwürdiger Erzählungen behauptet, durch das Naturwiederherstellungsgesetz würden Arbeitsplätze vernichtet. Es würde deshalb der Gesellschaft wirtschaftlicher Schaden entstehen. Weniger Pflanzenschutz oder Einschränkung in Naturschutzgebieten können Betriebe im Einzelfall schon etwas kosten. Das ist zweifellos richtig. Aber was würde im umgekehrten Fall „Nicht-Handeln“ kosten?
Eine intakte Natur stellt
a) ihre Erträge in Form von Getreide, Holz oder Fischen bereit,
b) sie reguliert das Ökosystem zum Beispiel bei potenziellem Schädlingsbefall und
c) sie inspiriert unsere Kultur und unterstützt unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit.
Alles zusammen bezeichnen wir als Ökosystemleistungen. Laut einer Schätzung der OECD von 2019 kann der Wert von Ökosystemleistungen global auf zirka 125 Billionen US-Dollar bis 140 Billionen US-Dollar pro Jahr taxiert werden. Das ist grob überschlagen die Hälfte des Welt-Bruttoinlandsprodukts.
Sicher, solche Schätzungen sind immer mit methodischen Unsicherheiten behaftet. Aber an einer Tatsache kommen wir nicht vorbei: Wir sind in hohem Maße von einer intakten Natur und einem stabilen Klima abhängig, mehr als die allermeisten Arten auf diesem Planeten. Das größte Risiko für sichere globale Ernten ist folglich der Klimawandel und der Rückgang der Artenvielfalt. Extremwetter, Winderosion, Bodendegradation und fehlende Schädlingskontrolle durch Artenvielfalt gefährden die Ernten mehr als ein paar Hektar mehr unter Naturschutz, deren Ertragspotenzial meist überschaubar ist. Das aber heißt: Das Naturwiederherstellungsgesetz nicht zu beschließen, würde hohe Folgekosten für die Gesellschaft bedeuten und stellt ein Risiko für Landbewirtschaftung und für die Fischerei dar – sowie für davon abhängige Menschen und Industriezweige bis hin zu den Dienstleistern der Finanz- und Versicherungswirtschaft.
Fragwürdige Schauermärchen
Aus wissenschaftlicher Sicht kann man nur auf die zahlreichen Publikationen hinweisen, welche die Probleme des Klimawandels und einer rückläufigen Artenvielfalt beschreiben und belegen. Politisch müssen die Parlamentarier:innen entscheiden, ob wir mehr in den Naturschutz und die Sicherung unserer Zukunft investieren oder nicht. Aber diese Entscheidung sollte auf der Basis von Fakten erfolgen, nicht von fragwürdigen Schauermärchen.
Die Sorgen und Nöte von Landnutzer:innen sollten wir als Gesellschaft ernst nehmen. Sie sind als erste von Umweltproblemen betroffen, aber am Ende sind wir es alle. Es spricht also sehr viel dafür, das Naturwiederherstellungsgesetz zu beschließen und mehr Geld für den Erhalt der Arten in die Hand zu nehmen. Das würde Landwirten, der Gesellschaft und der Wirtschaft dienen.