Rechnungslegung ist die Sprache der Finanzmärkte. Im tiefgreifenden Strukturwandel unserer Wirtschaft zu Klimaneutralität müsste sie Bände sprechen: über die nachhaltigkeitsbezogene Finanzrisiken von Unternehmen, die noch nicht mit der Zeit gehen, über die Schaffung von Wert und Potentialen von Unternehmen, die an der Spitze der Transformation stehen. Was derzeit auffällt, ist: Beredtes Schweigen.
So schreibt ein im MDax gelistetes Unternehmen, unter anderem Zulieferer der Öl- und Gasindustrie, auf seiner Homepage: „Wir sind ganz nah dran und in den wichtigsten Öl- und Gasmärkten vor Ort. Strengere Umweltrichtlinien machen neue Prozesse für die Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen erforderlich. Gleichzeitig müssen die daraus resultierenden Endprodukte wettbewerbsfähig bleiben. Dabei wollen wir mithelfen.“
Im Geschäftsbericht aber taucht das Wort „Öl“ bei der Geschäftsdarstellung nicht auf. Im Lagebericht wird auf die Auszeichnung als „eines der führenden Unternehmen im Hinblick auf Transparenz und Management im Thema Klimaschutz weltweit“ hingewiesen. Im Einklang mit dem Pariser Klimaabkommen seien „ambitionierte Klimaziele“ gesetzt, bis 2050 wolle das Unternehmen „klimaneutral“ sein.
Im Anhang und Lagebericht zum Konzernabschluss finden sich allerdings keine Finanzdaten zu den entsprechend geplanten und getätigten Investitionen wieder, und auch die angewandten Bewertungsmethoden und -annahmen werden nicht offen gelegt.
Standards weithin missachtet
Dahinter verbirgt sich Sprengpotential: Sowohl nach den internationalen Rechnungslegungsstandards IFRS als auch nach dem deutschen Rechnungslegungsstandard HGB sind grundlegende Bewertungsannahmen anzugeben.
Im Strukturwandel zählen Prognosen zur politischen Umsetzung des Pariser Klimaabkommens und der Umsetzung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum deutschen Klimaschutzgesetz zu den wichtigsten Bewertungsannahmen. Welchen CO2-Preis legen die Firmen bei der Prüfung zugrunde, ob ihre langlebigen maschinellen Anlagen tatsächlich noch über die gesamte Nutzungsdauer hinweg genutzt werden können oder mangels Wirtschaftlichkeit vorzeitig ausgemustert werden müssen? Gehen Unternehmen davon aus, dass das Pariser Klimaabkommen politisch eingehalten wird?
Investoren und Banken interessiert, ob Unternehmen Investitionen getätigt haben, die mit dem Pariser Klimaabkommen nicht vereinbar und daher abschreibungsgefährdet sind (stranded assets). Sie interessiert, wie viel Unternehmen in ihre „Paris-konformen Ziele“ investieren und investiert haben. Sind sie Branchenführer oder Branchenlaterne? Das sind entscheidungsrelevante Fragen, die in der Rechnungslegung heute branchenübergreifend nicht beantwortet werden, obwohl genau dies ihr Anspruch und ihre Aufgabe ist.
Im obigen Beispiel baut ein Unternehmen einen Teil seines Geschäftsmodells darauf auf, dass es der Öl- und Gasindustrie noch lange gut geht und es als „Gehilfe“ hiervon profitiert. Gleichzeitig preist es die Paris-Konformität seiner Ziele. Aber in welchem Zukunftsszenario wird es künftig resilient sein – in einem „Hot House-Szenario“ oder in einem verfassungskonformen Szenario einer geordneten Transformation zu Klimaneutralität? Selbst das Label „SBT Paris-konforme Ziele“ sagt offenkundig nichts darüber aus.
Rechnungslegung aussagekräftig machen!
Dabei gibt es Regeln – die Bilanz ist eine im Rechtssinne. Ihre Verletzung ist bußgeld- und strafbewehrt. Bewertungsregeln sind zu beachten. Konzernabschluss und Konzernlagebericht müssen miteinander in Einklang stehen. Bewertungsannahmen sind offenzulegen. Geplante größere Investitionen sind im Anhang oder Lagebericht anzugeben. Gewährleistungsrisiken infolge der Verletzung von Lieferkettensorgfalt sind zu berichten. Vor allem müssen die Risiken oder der Wettbewerbsvorteil eines Unternehmens im Strukturwandel die Basisinformation des Lage- und Risikoberichts sein – bevor sich die Entwicklungen in den Bilanzen und Gewinn- und Verlustrechnungen niederschlagen.
Der Strukturwandel ist tiefgreifend, er umfasst auch das Leben und Wirtschaften innerhalb planetarer Belastungsgrenzen. Unternehmen, die diese Transformation nicht begreifen, ablehnen oder mit Ideologie verwechseln, werden sich schrittweise aus dem Markt heraus herauskatapultieren. Auf Konkretisierungen durch „Brüssel“ zu warten, wo gerade die EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung reformiert wird, verletzt geltendes Bilanzrecht.
Wirtschaftsprüfung und Aufsicht sind gefordert
Resilient im Transformationsprozess sind allein Unternehmen, die Nachhaltigkeitsrisiken prüfen und in ihre Controlling- , Risikomanagement- und Risikofrüherkennungssysteme integrieren. Dafür sind Informationen über die wahren Kosten („True Cost“), inklusive der Zulieferkette, essentiell. Sie müssen in die internen Steuerungssysteme einbezogen und im Lagebericht berichtet werden!
Rechnungslegung ist die Sprache der Finanzmärkte. Mit ihr soll ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der wirtschaftlichen Lage eines Unternehmens vermittelt werden („true and fair view“). Ihr kommt darüber hinaus eine rechtlich verankerte Schutzfunktion „im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter“ zu. Dieser Schutzfunktion wird die verbreitete Rechnungslegung im Strukturwandel nicht mehr gerecht.
Das gilt auch für die Aufsicht: Weder die Bafin noch Wirtschaftsprüfer prüfen systematisch Klima- und andere Nachhaltigkeitsrisiken bei Banken und Unternehmen. Firmen, die sich effektiv und transparent transformieren, haben auch darum bilanziell und bei der Finanzierung von Transformation Nachteile. Diesen Zusammenhang gilt es zu verstehen. Hier liegen systemische Risiken für die Realwirtschaft, die Finanzmärkte und unsere Gesellschaft.
Es ist darum Zeit für eine neue Rechnungslegung und ihre Durchsetzung
nach bereits bestehenden Standards. Auch Wirtschaftsprüfung und Aufsicht sind
hier gefordert.