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Standpunkte Dauerhafte Public-Health-Expertise im Kanzleramt

Nils Bandelow
Nils Bandelow ist Mitglied des beim Kanzleramt angesiedelten ExpertInnenenrats Gesundheit und Resilienz Foto: privat

Gesundheitspolitik braucht mehr als Medizin und Politik. Sie braucht ein dauerhaftes, unabhängiges und interdisziplinäres Expertengremium beim Kanzleramt, um Gesundheit zu fördern und auf Krisen vorbereitet zu sein. Welchen Anforderungen eine wissenschaftsbasierte Politikberatung genügen muss, schreibt der Politikwissenschaftler Nils Bandelow, Mitglied des ExpertInnenrats Gesundheit und Resilienz, im Standpunkt.

von Nils Bandelow

veröffentlicht am 03.04.2025

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Die aktuellen Herausforderungen im Gesundheitswesen sind weit mehr als Fragen der Krankenversorgung bei begrenzten Ressourcen. Es geht um soziale Gerechtigkeit, Bildungschancen, Umweltbedingungen, Arbeitsbedingungen, Ernährung und Verkehrssicherheit. Öffentliche Gesundheit („Public Health“) betrifft alle Lebensbereiche. Deshalb ist sie mehr als eine sektorspezifische Aufgabe des Bundesgesundheitsministeriums. Sie muss zur gesamtstaatlichen Aufgabe werden, mit klarer politischer Priorität und besserer strategischer Steuerung.

Die 14. Stellungnahme des Expertenrats „Gesundheit und Resilienz“, an der ich als Mitglied mitgewirkt habe, hat einen Impuls für die Einrichtung eines dauerhaft institutionellen Gremiums gegeben. Dieses Gremium soll ressortübergreifend wissenschaftsbasierte Politikberatung zur Förderung von Gesundheit leisten.

Wissenschaft braucht Vertrauen

Schon heute existieren viele gesundheitspolitische Beratungsgremien mit hoher fachlicher Qualität. Aber: Die Beratung ist fragmentiert, die Gremien sind schlecht vernetzt, disziplinäre und institutionelle Lücken bleiben. In Krisen wie der Corona-Pandemie fehlte oft die Einbindung von Kinder- und Jugendperspektiven, von Armutsexpertise oder von strategischer Vorausschau. Kurzfristig zusammengesetzte Gremien unterliegen strukturellen Schwächen und häufig einem Mangel an Zeit, Vertrauen und Repräsentation. Ein dauerhaftes Gremium ermöglicht dagegen die kontinuierliche Erprobung und Verbesserung der Kommunikation zwischen Politik und Wissenschaft. Es erlaubt, institutionelles Vertrauen aufzubauen.

Die Aufgabe wissenschaftlicher Politikberatung ist nicht die Verkündung von Wahrheiten. Wissenschaft lebt vom Zweifel, von unterschiedlichen Perspektiven und von Transparenz. Gerade deshalb muss sie Empfehlungen entwickeln, die nachvollziehbar und belastbar sind. Die Erfahrung aus der Pandemie zeigt: Wenn wissenschaftliche Ratschläge politisch unbequeme Inhalte transportieren, sind sie nur dann wirkungsvoll, wenn Politik und Öffentlichkeit der Expertise und den Motiven der Beratung vertrauen.

Ein dauerhaftes Beratungsgremium kann hier Standards setzen. Es kann lernen, wie wissenschaftliche Aussagen verständlich kommuniziert werden, ohne dabei ihre Vorläufigkeit oder Pluralität zu leugnen. Und es kann dabei helfen, auch für kontroverse Empfehlungen Akzeptanz zu schaffen: durch nachvollziehbare Verfahren, durch transparente Auswahlprozesse, durch verantwortliche Kommunikation.

Legitimation durch Strukturen und Prozesse

Die Politikwissenschaft zeigt: Inhalte allein schaffen keine Legitimität. Gerade dort, wo wissenschaftliche Empfehlungen mit politischen Zielen kollidieren, braucht es Vertrauen in die Strukturen und Verfahren, aus denen diese Empfehlungen kommen. Wer unbequeme Ratschläge gibt, braucht nicht nur Evidenz, sondern auch einen realistischen Blick auf das politische und öffentliche Umfeld, das über diese Ratschläge entscheidet.

Wissenschaftliche Politikberatung muss deshalb unabhängig und plural organisiert sein. Die Nähe zur Politik darf nicht zur Abhängigkeit führen. Ebenso wenig darf die Nähe zur Wirtschaft die Themenagenda verzerren. Gerade in den Bereichen Public Health und Prävention gibt es viele relevante Fragen, für deren Bearbeitung vergleichsweise wenig privatwirtschaftliches Interesse besteht (etwa im Bereich Hygiene), und die daher Gefahr laufen, in der Konkurrenz um Forschungsförderung vernachlässigt zu werden. Ein unabhängiger Expertenrat kann dazu beitragen, hier neue Sichtbarkeit und neue Relevanz für die vernachlässigten Fragen der öffentlichen Gesundheit zu schaffen.

Beratung ist mehr als Wissenschaft

Wer Politik berät, ist kein neutraler Apparat. Es sind Persönlichkeiten gefragt, die nicht nur wissenschaftlich exzellent sind, sondern auch fähig zum Austausch, zur Vermittlung und zum Kompromiss. Wer Empfehlungen formuliert, muss in der Lage sein, alternative Sichtweisen mitzudenken und dabei doch einen Standpunkt zu vertreten, der Orientierung bietet. Auch das braucht Zeit, Erprobung und Reflexion. Es muss gelernt, gefördert und anerkannt werden.

Ein dauerhaftes Gremium im Kanzleramt kann diese Fähigkeiten institutionell sichern. Es fördert Austausch zwischen Disziplinen und zwischen Wissenschaft, Politik, Verwaltung und Praxis. Dieser Austausch kann dazu beitragen, dass Wissenschaft in ihrer Eigenlogik erhalten bleibt, aber zugleich anschlussfähig wird an politische Prozesse.

Wissenschaft ist international. Auch die politische Beratung muss es sein. Gerade im Gesundheitswesen lohnt der Blick auf andere Länder: Dort sind beratende Strukturen oft disziplinär vielfältiger aufgestellt und stärker in politische Entscheidungsprozesse eingebunden. Ein dauerhaftes Gremium kann dazu beitragen, internationale Vergleichbarkeit zu fördern, aus strukturellen Lösungen anderer Demokratien zu lernen und wissenschaftliche Debatten nicht nur national, sondern im europäischen und globalen Austausch zu führen. Das stärkt sowohl die Qualität der Empfehlungen als auch ihre Legitimation.

Wissenschaft ist ein konstitutives Element demokratischer Gesellschaften. Sie stellt kritische Fragen, produziert belastbare Grundlagen und schafft Räume für pluralistische Debatten. In autoritären Regimen wird sie bekämpft: nicht wegen ihrer Inhalte, sondern wegen ihrer Funktion als Gegenmacht. Umso mehr braucht eine liberale Demokratie institutionelle Formen, die Wissenschaft dauerhaft sichtbar macht und damit auch ihre Unabhängigkeit sichert. Ein dauerhaftes, gut vernetztes Gremium am Kanzleramt wäre ein erster Schritt für mehr Resilienz, mehr Vertrauen und eine Gesundheitspolitik, die dem Namen gerecht wird.

Nils Bandelow ist Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Braunschweig und leitet dort das Institute of Comparative Politics and Public Policy (CoPPP). Seit 2024 ist er Mitglied des Expert:innenrats Gesundheit und Resilienz der Bundesregierung.

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