Nancy wohnt in Lodwar, der größten Stadt im Norden Kenias. Die junge Frau mit auffälligen Zahnlücken gehört zum Stamm der Ilimanyang, unter dessen männlichen Mitgliedern es ein paar gibt, die noch viel weniger Zähne haben, auch wenig Haare – und die ganz ohne Schweißdrüsen in der Hitze der Äquatorzone leben. Möglich ist das nur, weil sie immer einen Wasservorrat bei sich tragen und damit sehr häufig ihre Haut befeuchten, was den fehlenden Schweiß ersetzt und so die Gefahr eines Hitzschlags mindert, wenn auch nicht völlig bannt. Sie leiden an einer Krankheit mit dem Namen X-chromosomale hypohidrotische ektodermale Dysplasie (XLHED).
Nancys Vater und alle seine Brüder sind an dieser Krankheit gestorben. Nancy weiß, dass sie Trägerin des Gendefektes ist, der XLHED verursacht, so wie mehr als 30 weitere Frauen in ihrem Umfeld. Die meisten sind in Kapua zu Hause, in der Halbwüste, eine knappe Autostunde von Lodwar entfernt. Die betroffenen Familien haben verstanden, dass es sich um eine Erbkrankheit handelt, und meiden Ehen zwischen Blutsverwandten. Nancy ist unverheiratet. Sie hat studiert und die englische Sprache gelernt, obwohl in ihrer Region nur Turkana und ein bisschen Swahili gesprochen wird. Sogar an einer Fernsehsendung, in der es um die seltene Krankheit im Stamm der Ilimanyang ging, war sie schon beteiligt.
Nun ist Nancys Freundin zum ersten Mal schwanger: eine Frau, die auf einem ihrer zwei X-Chromosomen ebenfalls die Anlage für XLHED in sich trägt. Sie erwartet einen Jungen. Bei ihm bestünde, weil kein zweites X-Chromosom vorhanden ist, leider nicht die Chance, dass der Gendefekt wenigstens teilweise ausgeglichen wird wie bei betroffenen Frauen. Vielleicht würde er schon kurz nach der Geburt sterben. Ein Baby, das nicht schwitzen kann, lässt sich in der Halbwüste nur schwer vor dem Hitzschlag bewahren.
Therapie muss vor der Geburt erfolgen
Nancy hat gelesen, dass in Europa eine wirksame Behandlung entwickelt wurde, die jedoch schon vor der Geburt erfolgen muss. Auf den Internetseiten einer Patientenorganisation stößt sie auf Videos von im Mutterleib behandelten Kindern, die ganz normal schwitzen können. Die neue Therapie werde derzeit in einer klinischen Studie geprüft. Diese sei offen für schwangere Anlageträgerinnen auf der ganzen Welt, finde aber nur in sechs Ländern statt, bedauerlicherweise nirgendwo in Afrika. 16 betroffene Kinder habe man bisher behandelt, zehn davon im Rahmen der Studie. Die ältesten im fernen Deutschland seien acht Jahre alt, könnten im Sommer draußen spielen, Sport treiben und sogar die Sauna besuchen. Nancys Freundin interessiert sich sehr dafür, doch weder sie noch Nancy war jemals weiter als fünf Autostunden von Lodwar entfernt. Noch nie haben sie in einem Flugzeug gesessen. Auch Reisepässe besitzen sie nicht.
Die beiden sprechen mit Geoffin, einem Pastor der Kenia Hope & Mercy Mission, der die Ilimanyang gut kennt. Geoffin recherchiert im Internet und kommt zu dem Schluss, dass diese Chance für das Baby den Versuch wert sei. Er organisiert ein Zoom-Meeting mit dem Leiter der weltweiten Therapiestudie, welcher bereit ist, Nancys Freundin, sofern sie die vorgegebenen medizinischen Kriterien erfüllt, in die Studie aufzunehmen. Doch allein kann die Schwangere sich eine Reise nach Deutschland nicht vorstellen. Nancy bietet an, sie zu begleiten, ihr als Vertraute im fremden Land und mit ihren Englischkenntnissen zur Seite zu stehen, was die Freundin dankbar annimmt.
Sie beantragen zusammen Reisepässe, die sie persönlich in Nairobi abholen müssen. Die Teilnahme an der Studie ist kostenlos, wie bei jeder klinischen Prüfung eines neuen Medikaments. Auch die Kosten der Reise und der Unterkunft übernimmt komplett der Sponsor dieser Studie, und die Schwangere sowie ihre Begleitperson werden vom Reiseantritt bis zu ihrer Rückkehr krankenversichert sein. So weit, so gut.
„Zweifel an Rückkehrwilligkeit“
Im Studienzentrum in Erlangen werden indes gründliche Vorbereitungen getroffen. Nach wenigen Tagen ist eine kenianische Dolmetscherin für das Aufklärungsgespräch gefunden, die passende Unterkunft steht bereit und es liegt eine in Swahili übersetzte Version der 42 Seiten umfassenden Patienteninformation und -einwilligung vor. Der Studienleiter bittet die Deutsche Botschaft in Nairobi um schnellstmögliche Visa-Erteilung aus medizinischem Grund, weil die vorgeburtliche Behandlung nur in einem bestimmten Zeitraum während der Schwangerschaft möglich ist und nicht mehr viel Zeit bleibt.
Fast acht Stunden verbringen Nancy und ihre Freundin im TLScontact-Gebäude in Nairobi damit, ihre Visa-Anträge zu stellen, ein Formular nach dem anderen auszufüllen und ihr Anliegen zu erklären. Dass sie für die Sachbearbeiter keinen Sonderstatus haben, ist ihnen klar, aber wegen des besonderen Anlasses der Reise hoffen sie doch auf etwas Wohlwollen und erwarten die Entscheidung mit Zuversicht.
Nach vielen E-Mails vorab, in denen der Studienleiter der Deutschen Botschaft nicht nur die Hintergründe, sondern auch die Dringlichkeit des Visa-Begehrens dargelegt hat, glaubt er, dort offene Ohren gefunden zu haben. Nancys Antrag wird zuerst geprüft. Am Ende schreibt die Bearbeiterin: „Leider werde ich die Dame direkt ablehnen. Es fehlt so ziemlich an allem und ich habe starke Zweifel an der Rückkehrwilligkeit. Es liegt auch keine Krankenversicherung vor. Sie ist jung, ledig, nicht erwerbstätig und hat keinerlei Finanzen nachgewiesen. Sie würde so auch nicht in den Flieger gelassen werden, und selbst wenn, würde die Bundespolizei in Deutschland sie nicht einreisen lassen.“ Mit ähnlicher Begründung wird der Antrag von Nancys schwangerer Freundin abgelehnt. Die bereits ausgestellten und bezahlten Reisepässe erhalten die Frauen nicht zurück.
Gleicher Zugang zu klinischen Studien nur auf dem Papier?
Gegen diese Entscheidung lässt sich auf den ersten Blick wenig vorbringen. Von Verständnis oder Gerechtigkeit im tieferen Sinne allerdings zeugt sie nicht. Mit der verhinderten Reise nach Deutschland wird vielmehr die Botschaft vermittelt, so eine Studie möge ja offen sein für Schwangere aus jedem Land der Welt, aber nicht für solche, die dafür rechtzeitig ein Visum bräuchten.
Aus ethischer Sicht ist es einfach: Ob ein mündiger Erwachsener an einer Arzneimittelstudie teilnehmen darf, sollte nur von vorab definierten Ein- und Ausschlusskriterien abhängig sein. Für die Kosten der Reise, der Unterkunft oder der Krankenversicherung kommt der Sponsor der Studie auf. Dessen verbindliche Kostenübernahmeerklärung lag der Deutschen Botschaft in Nairobi auch vor. Die Rückkehrwilligkeit der beiden Ilimanyang-Frauen hätte sich mit ein paar gezielten Fragen leicht erkennen lassen. War es der Zeitdruck, woran in diesem speziellen Fall ein berechtigtes Anliegen scheiterte? War es die Unerfahrenheit zweier Frauen aus dem Norden Kenias? Oder gibt es gleichen Zugang zu aussichtsreichen Arzneimittelstudien – wie er für Menschen mit seltenen Krankheiten gern gefordert wird – nur auf dem Papier?
Das öffentliche Interesse an den Ilimanyang in der Halbwüste von Turkana ist sicherlich gering. Doch Kenia ist kein kleines Land. Auch im Verwaltungsbezirk Baringo, vierhundert Kilometer südlich von Lodwar, leben Frauen mit dem gleichen Gendefekt wie Nancy, die schwanger werden könnten. Vermutlich auch anderswo in Kenia. Es könnte jedenfalls passieren, dass weitere, ähnlich begründete Visa-Anträge die diplomatische Vertretung Deutschlands in diesem ostafrikanischen Land erreichen. Welche Botschaft will man dort betroffenen Familien senden?
Holm Schneider ist Professor für Neonatologie am Universitätsklinikum Erlangen und leitet dort das Zentrum für Ektodermale Dysplasien und die Abteilung Molekulare Pädiatrie.
In der im November 2021 begonnenen EDELIFE-Studie werden die Sicherheit und der gesundheitliche Nutzen eines Arzneimittels zur vorgeburtlichen Behandlung der X-chromosomalen hypohidrotischen ektodermalen Dysplasie untersucht. Inzwischen sind acht Studienzentren weltweit daran beteiligt, in Deutschland die Universitätskliniken Erlangen und Leipzig. Die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Studie steht unter der Leitung von Holm Schneider, der für das Therapiekonzept 2019 den Care-for-Rare Science Award erhielt. Sie wird durch Programme der Europäischen Arzneimittelagentur (PRIME-Schema für prioritäre Arzneimittel) sowie der Food and Drug Administration der USA (Breakthrough Therapy Designation) unterstützt. Sponsor ist die Schweizer EspeRare Stiftung, deren Kooperationspartner Pierre Fabre für die Studienzentren in Großbritannien, Spanien und den USA die Rolle eines Co-Sponsors übernommen hat.