Beispiel Gesundheitspolitik. Sie ist ein gutes Beispiel für die Mesalliance zwischen Regierung und Gesellschaft, weil hier die Komplexität unserer heutigen Gesetzgebung mit ganzer Vielfalt erkennbar wird. Vom Föderalismus über eine plurale Verbändelandschaft bis hin zu einer breiten öffentlichen Betroffenheit und den limitierenden Finanzierungsoptionen in einem stark regulierten Wirtschaftszweig ist potenziell jeder von der Gesetzgebung in diesem Politikfeld unmittelbar betroffen.
Die öffentliche Debatte wird dominiert von der durch den Bundesgesundheitsminister ausgerufenen „Revolution“. Nicht weniger als eine Entökonomisierung, eine Entbürokratisierung und eine Steigerung der Behandlungsqualität verspricht Karl Lauterbach seit mehr als einem Jahr in jeder Talkshow und Veranstaltung. Zum heutigen Zeitpunkt ist allen Akteuren unklar, was von der angekündigten Revolution in der Krankenhausversorgung übrigbleibt und ob die meisten Bürgerinnen und Bürger dieses Landes die absehbaren Veränderungen tatsächlich so gewollt haben. Vor diesem Hintergrund sollte eigentlich die breite und einhellige Ablehnung der vorliegenden Reformvorschläge in Verbänden und Ländern aufhorchen lassen. Der Gesundheitsminister sieht sich bei der breiten Widerstandsfront in seinen Plänen dagegen gestärkt.
Von der angekündigten Revolution ist im konkreten Reformgesetzentwurf nicht mehr viel übriggeblieben. Die finanziellen Spielräume für grundlegende Veränderungen wurden auf ein Minimum reduziert und allein den gesetzlichen Krankenkassen aufgebürdet, weil im Haushalt der Bundesregierung kein Geld für derartige Großprojekte verfügbar ist. Aus der Zusage eines zustimmungspflichtigen Gesetzentwurfes wurde ein zustimmungsfreier Kabinettsentwurf mit Verordnungsermächtigungen, die wiederum durch den Bundesrat genehmigt werden müssen. Aus kurzfristigen Finanzhilfen für die insolvenzbedrohten Kliniken wurde eine Finanzierungsreform, die ab 2027 erstmals eine substanzielle Wirkung entfaltet. Der angekündigte Bürokratieabbau wird im ersten Schritt von einer gänzlich neuen Ordnungssystematik und einer weiteren Ausdifferenzierung der Finanzierungswege überdeckt. Haben wir das so verdient?
Verbände mit radikalen Einzelpositionen
Ihren Anteil an dem Verdienst haben Verbände mit ihren radikalen Einzelpositionen, die in ihrer Reinform weder konsens- noch anschlussfähig sind. Durch konsequente Missachtung der konkreten Gestaltungsmöglichkeiten wird jede Fachdiskussion im Keim erstickt und auf die moralische Richtigkeit der Forderungen oder die kommunikative Umgangsweise begrenzt. Der Föderalismus wird so zum Spielball eines politischen Kräftemessens, bei dem im Wesentlichen finanzielle Interessen auf dem Großmarkt unterschiedlichster Fachthemen ausgehandelt werden. Aus Experten werden oft Marktschreier, die sich für einen möglichst hohen Preis degradieren lassen.
In hochrangigen Diskussionsrunden zur Krankenhausreform auf Einladung des Gesundheitsministers an die Spitzenvertretungen der relevanten Verbände und Organisationen wird dann unverändert die fehlende Gesprächsbereitschaft des Ministers kritisiert, anstatt konkrete inhaltliche Verbesserungsvorschläge zu platzieren. Anstatt sich zwischen den Verbandsvertretungen vorab über wesentliche Forderungen abzustimmen, wiederholt jeder Teilnehmende die bekannten Positionen und Wünsche an einen vermeintlich wohlwollenden Alleinherrscher, auf den alle Beteiligten zu warten scheinen. Um sich anschließend zu wundern, dass der Minister, der sich mit seinen Mitarbeitenden bereits seit vielen Monaten mit den Details einer Krankenhausreform beschäftigt, seinen wohl austarierten Gesetzentwurf nicht über den Haufen schmeißt.
Der unter den meisten Experten unbeliebte und in Umfragen beliebte Minister wird so zum absolutistischen Staatsmann, der auf niemanden hören muss. Die aktuelle Debatte um die Krankenhausreform leidet nicht nur an ministerieller Beratungsresistenz, sondern auch an intellektueller Unterforderung aufgrund fehlenden sachlichen Inputs. Einen Gesundheitsminister, der bereits seit über 25 Jahren Gesundheitspolitik mitgestaltet, werden wir nicht mit den immer gleichen Konzepten und Forderungen der Vergangenheit überzeugen können. Warum gelingt es nicht, mit innovativen Konzepten aus der Praxis, überraschenden Allianzen zwischen verschiedenen Interessensgruppen und abgestimmten Vorschlägen für eine tragfähige Finanzierung gegenüber der Politik intelligenter aufzutreten?
Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten
Demokratie ist anstrengend, unbequem und im Ergebnis meist unbefriedigend. Niemand kann darauf hoffen, seine eigenen Positionen in Reinform wiederzuerkennen. Ein erfolgreiches Zusammenspiel funktioniert nur, wenn jeder Einzelne Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten abgibt. Vielfach sind zum Zeitpunkt der Kompromissfindung nicht alle Auswirkungen und Wirkungsweisen absehbar. Aufgeben ist trotzdem keine Option. Wer den sachlichen Diskurs scheut, bekommt Durchschnittsergebnisse im Eilverfahren. Wer Zusammenhänge nicht analysiert und differenziert, bekommt detailversessene Ausführungsbestimmungen und bürokratische Kontrollmechanismen. Wer keine anschlussfähigen Vorschläge einbringt, ist in der politischen Willensbildung zur Randfigur verdammt.
Wir haben es selbst in der Hand. Wir bekommen nicht nur die Regierung, die wir verdienen, wenn wir alle paar Jahre zur Wahl gehen. Wir bekommen auch die Gesetze, die wir verdienen, indem wir uns (nicht) in die öffentliche Meinungsbildung einbringen, Mehrheiten organisieren und Lösungsvorschläge selbst erarbeiten, bevor es andere für uns tun.
Nils Dehne ist Geschäftsführer der Allianz Kommunaler Großkrankenhäuser e.V. und Dr. Daniel Dettling Geschäftsführer von Gesundheitsstadt Berlin e.V. Der Text gibt die persönliche Meinung der Autoren wieder.