Eine chronische Erkrankung beeinflusst nicht nur das Leben der Betroffenen, sondern in erheblichem Maße auch das direkte soziale Umfeld: Lebenspartner:innen, Geschwister, Eltern, Freund:innen. Das gilt auch für die rund 8,5 Millionen Menschen in Deutschland mit Diabetes mellitus und ihre Angehörigen.
Dass die psychischen und emotionalen Folgen der Diabeteserkrankung von der gesamten Familie getragen werden, zeigte die bislang größte Studie zu den psychosozialen Aspekten in der Diabetestherapie, die sogenannte DAWN2-TM-Studie, mit mehr als 15.000 Teilnehmern in 17 Ländern sehr eindrücklich. Gleichzeitig analysierte die Untersuchung, wie häufig Angehörige an Diabetesschulungen teilnehmen und kam zu dem Schluss, dass hier erheblicher Nachholbedarf besteht; denn rund 75 Prozent der Angehörigen hatten noch nie an einer Schulung teilgenommen.
Versorgungslücke
Strukturierte, qualitätsgesicherte Patient:innenschulung ist in Deutschland integraler Bestandteil der Diabetestherapie. Strukturiert und qualitätsgesichert heißt, es existiert ein Curriculum, das die Schulungsinhalte und den Schulungsablauf sowie die einzusetzenden Lehrmaterialien verbindlich festlegt. Zudem ist die Wirksamkeit wissenschaftlich belegt.
Der Begriff „Schulung“ ist durchaus unglücklich, weil viele automatisch an die Schulzeit erinnert werden und damit nicht unbedingt beglückende Momente verbinden. Wissensvermittlung ist aber nur ein Teil von Patientenschulungen. Der Fokus moderner Diabetesschulungen liegt auf „Empowerment“.
Mit Ausnahme von Schulungsinhalten für Eltern von betroffenen Kindern richten sich Diabetesschulungen nahezu ausschließlich an den direkt Betroffenen. Ein explizites Schulungsprogramm für Angehörige existierte bislang nicht. Um diese Versorgungslücke zu schließen, entwickelte der Verband der Diabetes-Beratungs- und Schulungsberufe in Deutschland e.V. (VDBD) mit Förderung durch das Bundesministerium für Gesundheit das erste Schulungsprogramm, das spezifisch die Bedürfnisse von Angehörigen adressiert.
Empowerment
Ziel dieses Schulungsprogramms mit dem Titel „DiaLife – zusammen leben mit Diabetes“ ist es, die krankheitsbezogenen Belastungen von Angehörigen zu reduzieren sowie durch ein Empowerment die Fähigkeit der Angehörigen zur sozialen Unterstützung zu stärken. Soziale Unterstützung hat als psychosoziale Ressource einen wesentlichen Einfluss auf die Gesundheit. Eine gute soziale Unterstützung durch Angehörige gilt als wichtiger Beitrag für ein erfolgreiches Selbstmanagement der Betroffenen. DiaLife adressiert explizit auch Angehörige von kognitiv eingeschränkten und geriatrischen Patient:innen, da die Fähigkeit zu einem effektiven Selbstmanagement im hohen Lebensalter oft eingeschränkt ist.
DiaLife ist modular aufgebaut und zielgruppenspezifisch in zwei Versionen erstellt, das heißt für Angehörige von erwachsenen Menschen mit Diabetes Typ 1 beziehungsweise Diabetes Typ 2. Beide Versionen bestehen aus obligatorischen Basismodulen sowie Wahlmodulen. Ein modernes Schulungsprogramm dient aber nicht nur der Wissensvermittlung, sondern soll auch Bewältigungsstrategien trainieren und soziale Kompetenzen fördern. Daher werden in den Basismodulen nicht nur die Grundlagen der Erkrankung, Notfallsituationen, Insulintherapie beziehungsweise Ernährung und Bewegung besprochen, sondern auch das „Leben mit Diabetes nachempfunden” und „Kommunikationsstrategien“ für Problemsituationen erarbeitet. Die Wahlmodule reichen von „Demenz verstehen“ über „Folgeerkrankungen“ bis hin zu „Sondersituationen“, wie z.B. Schwangerschaft. In allen Modulen des Schulungsprogramms spielen die Interaktion mit den Schulungsteilnehmenden und der Austausch untereinander eine zentrale Rolle.
Wirksamkeit belegt
Zur Überprüfung der Wirksamkeit von DiaLife wurde eine randomisierte, kontrollierte Studie mit insgesamt 176 Angehörigen durchgeführt, die per Zufall auf eine Kontrollgruppe ohne Schulung und eine Interventionsgruppe, die mit DiaLife geschult wurde, verteilt wurden. Im Vergleich beider Gruppen zeigte sich in der Interventionsgruppe ein signifikanter diabetesbezogener Wissenszuwachs sowohl direkt nach der Schulung als auch zwölf Monate nach Schulungsende und zwar unabhängig vom Diabetestyp.
Darüber hinaus legen die Studienergebnisse nahe, dass nach Schulung mit DiaLife Angehörige von Menschen mit Diabetes Typ 2 über eine bessere mentale Gesundheit verfügen als die Kontrollgruppe. Die große Mehrheit der Angehörigen empfand das Schulungsprogramm zudem als hilfreich und fühlte sich sicherer im Umgang mit der Erkrankung und motiviert zur Unterstützung der Betroffenen.
Abrechnungsdilemma
Ist die Wirksamkeit eines Schulungsprogramms wissenschaftlich belegt und die Ergebnisse der Evaluationsstudie in einem wissenschaftlichen Peer-Review Journal veröffentlicht, sind gerne drei bis vier Jahre ins Land gegangen. Anschließend muss das Schulungsprogramm vom Bundesinstitut für Soziale Sicherung zertifiziert werden. Der Zertifizierungsantrag wiederum kann nur von einer Krankenkasse gestellt werden, die damit auch signalisiert, dass sie bereit wäre, die Schulung in einer Praxis zu refinanzieren. Dieser ohnehin sehr langwierige Prozess wird im Falle von DiaLife erschwert, weil Angehörige keine Patient:innen im eigentlichen Sinne sind und sich die Krankenkassen nicht zuständig fühlen.
Solange aber die Schulung mit DiaLife nicht mit Krankenkassen abgerechnet werden kann, wird sie kaum genutzt und bleibt im besten Fall so etwas wie eine individuelle Gesundheitsleistung (IGeL), das heißt die Angehörigen müssen selbst bezahlen. Damit das Schulungsprogramm sein Potenzial entfalten kann, appelliert der VDBD an Krankenkassen, die Angehörigen-Schulung DiaLife in den Leistungskatalog aufzunehmen – bei mehr als acht Millionen Menschen mit Diabetes und steigender Inzidenz ein wichtiger gesellschaftlicher Beitrag zu einer verbesserten Versorgung von Diabetespatient:innen.
Dr. Gottlobe Fabisch ist Geschäftsführerin des Verbands der Diabetes-Beratungs- und Schulungsberufe in Deutschland (VDBD).