Standpunkte Patientensteuerung neu denken




Konzepte zur Prävention und Verhaltensänderung könnten vielen chronisch Kranken helfen, doch noch mangelt es an Angeboten. Dabei könnten digitale Programme und verhaltenspsychologische Ansätze die Versorgung revolutionieren, meinen Niklas Best und Laura Schmidt von Oska Health.
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Jetzt kostenfrei testenDeutschland gibt so viel für Gesundheit aus wie kaum ein anderes Land – und liegt bei den Pro-Kopf-Ausgaben in der OECD auf Platz drei. Trotzdem gehört Deutschland zu den Ländern mit den meisten Risikofaktoren für chronische Erkrankungen, etwa Bluthochdruck, Bewegungsmangel oder ungesunde Ernährung. Das zeigt: Es fehlt nicht an Geld, sondern an wirksamen Konzepten. Vor allem bei der Begleitung chronisch kranker Menschen nutzen wir das Potenzial von Prävention und Verhaltensänderung noch viel zu wenig.
Das System blendet den Patientenalltag aus
70 Prozent der Gesundheitskosten in Deutschland entstehen durch chronische Erkrankungen. Trotzdem fehlt es weiterhin an tragfähigen Versorgungskonzepten, die den Alltag der Betroffenen mitdenken. Der Grund: Viele chronische Erkrankungen schreiten nicht deswegen voran, weil eine medizinische Behandlung fehlt – sondern weil es vielen Betroffenen nicht gelingt, ihren Lebensstil dauerhaft anzupassen.
Dabei ist das Problem gut dokumentiert: Rund 50 Prozent der Menschen mit chronischer Nierenerkrankung nehmen ihre Medikamente nicht wie verordnet ein. 80 Prozent halten sich nicht an die empfohlene Salzreduktion. Zwei von drei erreichen nicht das empfohlene Aktivitätslevel.
Nicht aus Desinteresse – sondern weil die nötige systematische Unterstützung fehlt. Gesundheitsentscheidungen fallen nicht in der Arztpraxis, sondern im Alltag. Und dort fehlt es häufig an klarer Anleitung, positiven Impulsen und an niedrigschwelliger Begleitung.
Was die Gesundheitspsychologie leisten kann
Menschen ändern ihr Gesundheitsverhalten nicht allein durch Informationen oder Warnungen. Entscheidend ist, dass sie Selbstwirksamkeit aufbauen und erleben. Sie müssen spüren, dass die erforderlichen Schritte im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Fähigkeiten liegen. Es braucht Programme, die dabei helfen, einfache und realistische Routinen zu etablieren.
Eine wissenschaftlich fundierte Grundlage dafür bietet das HAPA-Modell (Health Action Process Approach). Es beschreibt, wie Menschen in drei Phasen zur Verhaltensänderung befähigt werden: Zunächst geht es in der motivationalen Phase darum, eine starke Intention zu bilden, also zum Beispiel das Ziel zu setzen, regelmäßige körperliche Aktivität in den Alltag einzubauen. Neben einer hohen Selbstwirksamkeit, braucht es dafür ein gewisses Bewusstsein für ein Gesundheitsrisiko und die Überzeugung, dass das entsprechende Verhalten etwas verbessert, die sogenannte Ergebniserwartung.
Ist eine Intention gebildet, folgt die zweite „volitionale” Phase der Umsetzung. Hier ist die konkrete Planung entscheidend – zum Beispiel welche Sportart wann und mit wem ausgeübt wird. Und genauso wichtig: Was sind meine Back-up Pläne, wenn für mich typische Barrieren auftreten. Auch in dieser Phase sollte die Selbstwirksamkeit weiter im Fokus stehen – kleine Erfolge gefeiert, mit Rollenmodellen und sozialer Unterstützung gearbeitet werden. Schließlich geht es in der dritten Phase darum, das neu begonnene Gesundheitsverhalten im Alltag aufrechtzuerhalten – mit gezielten Erinnerungen, Hilfestellungen bei Rückschlägen und etablierten Techniken zur Bildung von Routinen.
In allen drei Phasen sollten digitale Versorgungsprogramme ansetzen. Gesundheitscoaches, die per Telefon oder App begleiten, können zum Beispiel helfen, Selbstwirksamkeit und Motivation aufzubauen, bei der konkreten Planung unterstützen und schließlich dabei helfen, Routinen zu bilden und eventuelle Rückschläge aufzufangen. Aus eigener wissenschaftlicher Evaluation wissen wir: Solche Programme erhöhen die Therapietreue, haben eine hohe Akzeptanz unter den Teilnehmenden und verringern Komplikationen. Trotzdem ist dieser Ansatz noch nicht flächendeckend in der Regelversorgung angekommen.
Drei Stellschrauben für bessere Versorgung
1. Daten nutzen:
Krankenkassen verfügen über umfangreiche Versorgungsdaten – diese sollten systematisch genutzt werden, um Versicherte frühzeitig und gezielt über individuelle Gesundheitsrisiken zu informieren. Mit einem klaren gesetzlichen Rahmen – etwa durch §68b und §25 SGB V – haben Kassen schon heute die Möglichkeit, ihre Versicherten individuell anzusprechen und präventive Maßnahmen anzubieten. Ein Beispiel: Fast 80 Prozent der Menschen mit einer chronischen Nierenerkrankung wissen nichts von ihrer Diagnose – und damit auch nicht, wie stark sie den Verlauf durch ihr Verhalten beeinflussen können.
Durch datengestützte Identifikation könnten Krankenkassen diese Menschen gezielt erreichen und ihnen passgenaue Unterstützungsangebote machen – bevor es zu schweren Komplikationen kommt. Patientensteuerung heißt in diesem Zusammenhang: Daten nutzen, um Menschen früher zu erreichen, aufzuklären und wirksam zu unterstützen
2. DMPs weiterentwickeln:
Strukturierte Behandlungsprogramme wie Disease-Management-Programme (DMP) sind ein zentraler Baustein der Versorgung chronisch kranker Menschen. Sie sichern regelmäßige Arztkontakte und vermitteln Basiswissen, etwa in Gruppenschulungen. Doch reine Informationsvermittlung reicht nicht. Notwendig wäre eine alltagsnahe, kontinuierliche Begleitung, um tatsächliche Verhaltensänderung zu ermöglichen. Viele Menschen scheitern zum Beispiel an der empfohlenen Salzreduktion.
Ein verhaltenspsychologisch geschulter Gesundheitscoach kann hier helfen: etwa mit dem Tipp, Salzstreuer vom Tisch zu verbannen und bewusst auf verarbeitete Lebensmittel zu verzichten, inklusive einer konkreten Planung einer Einkaufsliste und Rezeptideen. Genau solche personalisierten Impulse in Kombination mit der digitalen Alltagsbegleitung fehlen bislang weitgehend in der Regelversorgung. Digitale Erweiterungen wie das „dDMP Diabetes“ zeigen erste technische Entwicklungen, doch verhaltenswissenschaftlich fundiertes, individuelles Coaching ist bisher kaum implementiert – und das ist essentiell, um insbesondere Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz zu erreichen. Nur damit wird aus Information tatsächliche Veränderung.
3. Multiprofessionelle Versorgung fördern:
Die Versorgung chronisch kranker Menschen darf nicht allein auf ärztlichen Schultern ruhen. Gerade bei Verhaltensänderungen braucht es ein Team: speziell motivations-psychologisch geschulte Fachkräfte für Ernährung, Bewegung oder Medikationsmanagement. Ein Beispiel: Ein:e Hausärzt:in hat im Durchschnitt nur wenige Minuten pro Quartal für Patient:innen mit chronischer Nierenerkrankung. Viel zu wenig Zeit, um Ernährungspläne zu besprechen, Verhaltensziele zu setzen oder über den Umgang mit Medikamenten zu sprechen. Hier kann ein interprofessionelles Team unterstützen – etwa durch wöchentliche Coachings, die helfen, gesündere Gewohnheiten im Alltag zu verankern. Angesichts des Fachkräftemangels ist das kein Luxus – sondern eine Notwendigkeit.
Patientensteuerung muss mehr können
Moderne Patientensteuerung darf nicht nur Navigationshilfe im System sein, sondern sollte als Aktivierung und Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen gedacht werden. Menschen müssen im Alltag wirksam unterstützt werden – mit digitalen Angeboten, psychologischer Expertise und intelligenter Datennutzung. Dazu müssen wir anfangen, das Wissen aus der Gesundheits- und Verhaltenspsychologie konsequent in unsere Versorgungsmodelle zu übersetzen.
Wenn wir es mit Prävention ernst meinen, brauchen wir Systeme, die Verhalten verändern – dauerhaft und evidenzbasiert. Nur so können wir die Versorgung chronisch kranker Menschen verbessern und unser Gesundheitssystem langfristig entlasten.
Niklas Best ist Mitgründer und Geschäftsführer von Oska Health, einem digitalen Versorgungsprogramm für chronisch kranke Menschen, das als zertifiziertes Medizinprodukt mit den gesetzlichen Krankenkassen arbeitet. Dr. Laura Schmidt ist Gesundheitspsychologin am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg und Senior Behavior Scientist bei Oska Health.
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