Gesundheit-E-Health icon

Gesundheit & E-Health

Standpunkte Pharma ist eine Schlüsselindustrie für den Strukturwandel

Claus Michelsen, Chefvolkswirt des vfa
Claus Michelsen, Chefvolkswirt des vfa Foto: vfa

Deutschlands Industrie steckt in einer Transformationskrise. Für ihre Modernisierung sind verschiedene Branchen unterschiedlich wichtig, schreibt der vfa-Chefvolkswirt Claus Michelsen. Die Pharmabranche ist besonders innovativ und produktiv, besonders ihr Forschungs- und Entwicklungsbereich sei stark ausgeprägt. Um den Standort Deutschland zu stärken, sollte deshalb auf ihre Innovationskraft gesetzt werden.

von Claus Michelsen

veröffentlicht am 19.12.2024

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen

Die deutsche Wirtschaft steckt in einer tiefen Krise. Vor allem die Industrie kann dem internationalen Innovations- und Kostendruck in vielen Bereichen nur noch schwer standhalten. Das Exportmodell der deutschen Industrie steht an etlichen Stellen zur Disposition, auch weil sich die geopolitische Gemengelage und der Zugang zu Energie sowie Rohstoffen deutlich verändert hat.

Gleichzeitig schwinden die Wachstumskräfte – und das schon seit einigen Jahren. All das, was die Wirtschaftsleistung der kommenden Dekade bestimmt, wird knapp: Staat und Unternehmen investieren zu wenig, Infrastruktur und Produktionsanlagen veralten zunehmend. Immer weniger Arbeitskräfte müssen für immer mehr Menschen im Ruhestand sorgen. Wichtige Technologietrends – digitale Entwicklungen, neue Mobilitätskonzepte oder die Herstellung „grüner“ Maschinen und Anlagen – werden in anderen Wirtschaftsräumen gesetzt.

Pharma als produktivste Branche Deutschlands

Deutschland und Europa brauchen dringend eine Modernisierungsagenda. Neue Wachstumskerne müssen entstehen, in denen innovativer und produktiver gearbeitet wird. Die Pharmabranche ist eine der Schlüsselindustrien für eine solche Erneuerung des Standorts. Sie ist die forschungsintensivste und produktivste Branche Deutschlands. Fast jeder fünfte Euro des Umsatzes fließt in die Innovationsaktivitäten der Unternehmen zurück. Ein einsamer Spitzenwert im Branchenvergleich. Die Wertschöpfung pro Kopf liegt etwa beim 2,5-fachen des gesamtwirtschaftlichen Durchschnitts. Weit über den übrigen Wirtschaftszweigen.

Viel wichtiger aber: Sie hinterlässt den tiefsten ökonomischen Fußabdruck aller Industrien hierzulande. Dieser setzt sich im engeren Sinne aus drei Elementen zusammen. Erstens die eigene Produktionsleistung. Zweitens die dafür benötigten Vorleistungen und Produkte aus anderen Branchen. Und drittens die Nebentätigkeiten der Branche. Für die Pharmaindustrie heißt das in Zahlen: Die Produktion von Medikamenten im Wert eines Euros führte zuletzt zu weiteren knapp ein Euro fünfzig zusätzlicher Produktion aus Vorleistungen und Nebentätigkeiten. Damit liegt die Branche bei fast dem Doppelten des Industriedurchschnitts. Diese kommt lediglich auf 81 Cent zusätzlichem Produktionswert.

Stark ausgeprägter Forschungs- und Entwicklungsbereich

Hinter dem hohen Wert verbergen sich vor allem die Nebentätigkeiten der Branche – die derzeit viel wertvolleren Aktivitäten, blickt man auf die industriepolitischen Herausforderungen. „Nebenbei“ forscht die Branche an neuen Produkten und Lösungen in der Herstellung. Diese Aktivitäten finden sich statistisch nicht in der Produktionsleistung von Medikamenten wieder. Gut zehn Prozent ist der Anteil der Innovationsaktivitäten am gesamten Produktionswert der Pharmaindustrie. Das ist das Fünffache dessen, was die Industrie im Durchschnitt im Bereich der eigenen Forschung und Entwicklung tut.

Die Pharmaproduktion strahlt damit viel weiter als in der reinen Herstellung von Medikamenten gemessen. Sie sorgt für Innovationen, die in angrenzende Branchen ausstrahlen. Denn auch in den Vorleistungsbezügen steckt ein erheblicher Teil von Forschung und Entwicklung. All das wird jetzt benötigt. Ob Sensorik, Maschinenbau oder Verpackungstechnologien – die Zusammenarbeit in Clustern schafft Synergien, die neue Märkte erschließen und das Wachstum vorantreiben. Diese Erneuerungskraft und Strahlkraft bis weit in andere Branchen hinein sind essenziell, um die Modernisierung des Landes anzuschieben. Damit dies gelingt, müssen die politischen Weichen richtig gestellt werden.

Finanzierung, Fachkräftemangel und Bürokratie

Auch die Pharmaindustrie steht vor Herausforderungen. Der Fachkräftemangel ist eine der drängendsten Fragen. Um auch künftig Innovationen im Land anzuschieben, braucht die Branche kluge Köpfe in der Entwicklung und hochqualifizierte Mitarbeiter:innen in der Produktion. Damit diese in Zukunft zur Verfügung stehen, braucht es gezielte Strategien zur Weiterbildung, zum Quereinstieg und zur Ausschöpfung bislang ungenutzter Potenziale des Arbeitsmarktes. Dies eröffnet auch für Beschäftigte eine Chance im Wandel.

Auch klafft in Deutschland eine Lücke zwischen Spitzenforschung und der Umsetzung in marktfähige Produkte. Junge Unternehmen, die innovative Ideen voranbringen, finden häufig nicht die notwendige Unterstützung, um zu wachsen. Die Finanzierungsbedingungen für junge Unternehmen zu verbessern, ist nicht nur eine Herausforderung in Deutschland – das gilt für ganz Europa.

Ein weiterer Hemmschuh ist das fehlende Tempo. Dies liegt vielfach an strengen Qualitäts- und Sicherheitsauflagen. Diese sind notwendig, manchmal aber auch redundant. Ein zweiter Aspekt: es sind nicht immer die besten Produkte, die sich am Markt durchsetzen. Es ist auch entscheidend, ob und wo Produktionskapazitäten und die Netzwerke für die Produktion innovativer Produkte schnell aufgebaut werden. Die internationale Konkurrenz ist hier hart.

Europa als größter Markt für Innovationen

Für hochinnovative Produkte und Verfahren kann ein weiterer Schub im europäischen Verbund organisiert werden. Important Projects of Common European Interest (IPCEI) sind hier die Instrumente, die auch schon in anderen Hightech-Bereich Anwendung gefunden haben. Wenn sich Europa in diesem Zuge zum größten Markt für Innovationen entwickelt, wird der Fokus der Hightech-Branchen sehr schnell wieder auf den alten Kontinent gerichtet werden.

Die Pharmaindustrie ist in diesem Kontext weit mehr als nur ein Industriesektor von vielen – sie ist Motor für Innovation, Produktivität und gute Arbeit. Eine Schlüsselindustrie für die Zukunft des Standorts Deutschland. Sie sorgt aber auch für Gesundheit und Krisenfestigkeit. Auf ihre Innovationskraft zu setzen, zahlt sich deshalb doppelt aus und ist eine Investition in die Zukunft Deutschlands. Unsere Auswertung zum ökonomischen Fußabdruck der Pharmaindustrie lesen Sie in unserem neuesten MacroScope Pharma Economic Policy Brief.

Claus Michelsen ist Chefvolkswirt des Verbands forschender Pharma-Unternehmen (vfa).

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen