Psychische Belastungen sind inzwischen der zweithäufigste Grund für Krankschreibungen in Deutschland. Jeder Vierte leidet mindestens einmal im Jahr an einer psychischen Störung. Zudem haben Studien des Bundesministeriums für Gesundheit gezeigt, dass inzwischen ganze 15 Prozent aller Fehltage auf Erkrankungen der Psyche zurückgehen und wir können uns fast sicher sein, dass die Dunkelziffer hier noch höher liegt. Besonders gravierend sind diese Erkrankungen wegen ihrer langen Dauer: Sie liegt bei 36 Tagen, etwa dreimal so hoch wie bei anderen Erkrankungen.
Zudem haben sich die Prioritäten der kommenden Generationen an Arbeitnehmer:innen gewandelt. Der Fokus hat sich von Gehalt und Karrieremöglichkeiten hin zu flachen Hierarchien, einer guten Work-Life-Balance, Gesundheitsförderung und emotionaler Bindung verändert. Studien haben gezeigt, dass es besonders für junge Menschen ein ausschlaggebendes Kriterium ist, ob und wie sehr sich das jeweilige Unternehmen um die Gesundheit der Mitarbeitenden kümmert. Heißt also: Wer in die Gesundheit von
Mitarbeitenden investiert, hat es im War for Talent wesentlich einfacher.
Zum Glück gibt es heute ein breites Angebot an psychologischer Beratung und Psychotherapiemöglichkeiten, um psychische Erkrankungen zu behandeln. Allerdings sind diese Angebote oft nur schwer zugänglich und durch Wartezeiten, die teils über ein Jahr betragen, nur selten eine schnelle Hilfe. Die wenigsten können sich alternative private Unterstützung leisten. Somit gibt es unzählige Menschen, die sich trotz massiver psychischer Belastungen durch den Alltag und damit auch den Arbeitsalltag schleppen müssen.
KV-Berechnungen gehen an Realität vorbei
Fakt ist: der Psychotherapiemarkt ist komplett überlastet. Und, um der Wahrheit ganz ungeschönt ins Gesicht zu blicken: Suchen Betroffene nach einem Therapieplatz, ist die Erkrankung meist schon da. Warten Arbeitgebende darauf, dass ihre Mitarbeiter:innen so unterstützt werden, ist die Krankschreibung in der Regel bereits eingegangen.
Zu recht fordern also Psychotherapeuten, Betroffene und auch prominente Unterstützende wie Diana zur Löwen, Andreas Bergholz, Klaas Heufer-Umlauf und Nora Tschirner mehr Therapieplätze. Doch auch Therapieplätze sind keine nachhaltige Lösung für das eigentliche Problem.
Das Berechnungssystem der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) geht an der Realität vorbei. Mentale Belastungen haben in den vergangenen Jahren immer weiter zugenommen und der Anteil an Langzeitausfällen und Krankschreibungen aufgrund mentaler Belastungen wächst stetig. Mit dem Schaffen neuer Therapielätze kommen wir so nicht hinterher.
Durch mehr Therapieplätze wird das Problem zudem nicht an der Wurzel gepackt. Wir versuchen schlicht, die Symptome zu bekämpfen. Prävention ist nicht mehr nur empfohlen, sondern der einzige Weg, um langzeitige Krankenausfälle zu vermeiden und einen nachhaltigen Arbeitsmarkt zu erschaffen. Die jährlichen Kosten für mentale Gesundheit liegen aktuell im Milliardenbereich. Es ist also schlicht günstiger, Menschen zu unterstützen bevor “die Krise da ist”. Bevor lange Krankenstände notwendig sind.
Darüber hinaus können schmerzhafte und belastende Situationen für viele Menschen vermieden werden, wenn wir auf Präventionsarbeit statt Notfallintervention setzen. Denn dadurch kann das Risiko einer psychischen Krankheit für viele nicht nur gesenkt, sondern sogar eliminiert werden, so dass sie gar nie in schwerwiegende mentale Krankheiten rutschen.
Lieber präventiv handeln als nur auf Notfallbehandlung zu setzen
Wir haben die Möglichkeit, mit mehr Prävention im Bereich psychische Gesundheit einen positiven Kreislauf zu kreieren. Präventionsarbeit hilft, das Thema mentale Gesundheit zu normalisieren. Es hilft weiterzubilden und aufzuklären, sodass Frühwarnzeichen erkannt und angegangen werden können. Wenn sich mehr Menschen mit dem Thema beschäftigen, trägt das zur Entstigmatisierung bei und kann so weitere Krankheiten verhindern. Die Forderung an die Politik für eine bessere Unterstützung im Bereich psychische Gesundheit sollte also eigentlich “Mehr Prävention statt nur Notfallhilfe” lauten. Mit dem Präventionsgesetzt von 2015 und der “Offensive Psychische Gesundheit” wurden bereits wichtige Schritte in die richtige Richtung gemacht. Es muss jedoch noch mehr passieren. Mehr Kostenübernahmen für Präventionsleistungen, ein stärkerer Ausbau des Angebotsspektrums, aber vor allem auch eine leichterer Zugang.
Es fehlt immer noch an Transparenz und Aufklärungsarbeit, welche Angebote von wem in Anspruch genommen werden können. Unklar ist oft auch, wo zu suchen ist, zu welchen Kosten und zu welchen Konsequenzen die Nutzung unterm Strich führt. Immer noch wird die Inanspruchnahme von psychotherapeutischer Leistung nahezu sanktioniert: Sie führt zum Vermerk in der Krankenakte, was bedeutet, dass beispielsweise die Verbeamtung erschwert oder der Wechsel in die private Krankenkasse nahezu unmöglich wird.
Die Stigmatisierung mentaler Belastungen trifft einen also nicht nur durch unangenehme Fragen und Benachteiligung beim Jobwechsel, sondern auch ganz formal. Wenn Unternehmen nicht darauf hoffen wollen, dass Mitarbeitende rechtzeitig Unterstützung erhalten, müssen sie jetzt agieren. Sie müssen eine Unternehmenskultur entwickeln, die die mentale Gesundheit ihrer Mitarbeitenden schützt und offene Gespräche über das Thema, erlaubt. So entsteht eine Win-Win-Situation: Angestellte bleiben gesund und das Unternehmen sichert nicht nur Talente, sondern auch eine gute Performance. Arbeitgebende müssen jetzt entsprechende Angebote der mentalen Gesundheitsfürsorge etablieren und selbst Präventionsarbeit leisten.
Kimberly Breuer ist Psychologin und Mitgründerin von Likeminded, einer Online-Plattform für psychologische Hilfe.