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Standpunkte Psychisch Kranke brauchen vor allem Zeit

Dietrich Munz, Präsident Bundespsychotherapeutenkammer
Dietrich Munz, Präsident Bundespsychotherapeutenkammer Foto: privat

Patient:innen in psychiatrischen Kliniken werden häufig zu wenig spezifisch und nicht leitliniengerecht behandelt. Der Gesetzgeber hat den Gemeinsamen Bundesausschuss beauftragt, die PPP-Richtlinie bis zum 1. Januar 2022 um Mindestvorgaben für Psychotherapeut:innen zu ergänzen. Insbesondere die psychotherapeutische Versorgung in den psychiatrischen Krankenhäusern soll so verbessert werden.

von Dietrich Munz

veröffentlicht am 02.07.2021

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Seit dem 1. Januar 2020 regelt die Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik-Richtlinie (PPP-Richtlinie) des Gemeinsamen Bundesausschusses, wie viel Personal es in Kliniken für psychisch kranke Menschen mindestens geben muss. Ziel ist es, allen Patient:innen, egal in welche Klinik sie gehen, eine leitlinienorientierte Versorgung sichern zu können. Weniger Personal darf es nun in keiner Klinik mehr sein. Hält ein Krankenhaus die Vorgaben nicht ein, bekommt es seine Vergütung gekürzt.  

Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) hält eine Reform der psychiatrischen Krankenhäuser für überfällig. Sie sollte fortsetzen, was mit der Enquête-Kommission des Bundestages 1975 begann. Diese forderte damals eine Abkehr von der überholten Verwahrpsychiatrie, in der die Patient:innen häufig mehr als zwei Jahre verbrachten. Es hat sich seither viel verbessert, aber noch heute werden die Patient:innen in psychiatrischen Kliniken viel zu wenig spezifisch und häufig nicht leitliniengerecht behandelt. Die rechtlichen Rahmenbedingungen führen dazu, dass den Kliniken das dafür notwendige Personal fehlt. 

Eine stationäre Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt dann, wenn die ambulante Versorgung nicht ausreicht. Psychiatrische Krankenhäuser sollten ihren Patient:innen daher neben Schutz und Ruhe auch eine intensivere oder spezifischere Behandlung anbieten können, als sie ambulant möglich ist. Aber insbesondere bei der Psychotherapie gelingt dies mangels Personals bis heute häufig nicht.  

Weit hinter dem Ziel zurück

Die PPP-Richtlinie ist nach fünfjähriger Beratungszeit 2020 in Kraft getreten. Das Ergebnis ist gemessen an der Beratungszeit bescheiden: Die PPP-Richtlinie übernimmt mit geringen Änderungen nur die alten Vorgaben der Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) aus den 90er Jahren. Sie bleibt damit noch weit hinter dem gesteckten Ziel zurück, eine leitliniengerechte Versorgung in den Krankenhäusern für psychisch kranke Menschen sicherzustellen.  

Im Kern geht es bei der Reform der psychiatrischen Krankenhäuser um mehr Zeit für die Patient:innen. Mehr Zeit für Gespräche, mehr Zeit für den Aufbau einer tragfähigen und vertrauensvollen Beziehung. Mehr Zeit für Kriseninterventionen. Mehr Zeit für all die Ereignisse auf einer psychiatrischen Krankenstation, die nicht geplant sind, aber dort zum Alltag gehören. Die Vorgaben der PPP-Richtlinie reichen für all dies bisher nicht aus.  

Nur mit ausreichend Personal für Psychotherapie ist eine wirksame und nachhaltige Behandlung möglich. Zusätzlich sind Medikamente für viele Patient:innen wichtig und oft auch die Voraussetzung für psychotherapeutische Gespräche.  

Die Krankheit akzeptieren

Für die psychische Gesundung ist es oft entscheidend, dass eine Patient:in ihre Krankheit akzeptiert und selbst eine Behandlung für notwendig hält. Das psychotherapeutische Einzelgespräch ist dafür eine sehr wichtige Brücke. Eine tragfähige Beziehung ist die Basis für die nicht immer einfache, häufig sehr anstrengende Arbeit an der psychischen Erkrankung. Für diesen Prozess sollte Psychotherapie ausreichend, spezifisch und manchmal sogar hoch dosiert werden.  

Nach der PPP-Richtlinie kann eine Patient:in – rein rechnerisch – 50 Minuten Einzelpsychotherapie pro Woche erhalten. Das sind mehr als die 29 Minuten pro Woche, die laut Psych-PV in der Regelbehandlung früher möglich waren. Doch die 50 Minuten in der Woche reichen häufig nicht einmal dafür aus, die dringenden Fragen und Behandlungsprobleme mit der Psychotherapeut:in zu besprechen: Was ist seit dem letzten Gespräch passiert? Warum möchte diese Patient:in nicht in die Ergotherapie? Was genau ist ihr zu anstrengend? Oder: Warum wirken die Medikamente nicht so, wie sie sollen? Wie lässt sich eine Übernachtung zuhause planen? Meist ist seit dem vorigen Gespräch so viel vorgefallen, dass kaum mehr Zeit für die psychotherapeutischen Kerngespräche bleibt. 50 Minuten Einzelgespräch sind häufig nicht einmal das notwendige Minimum. 

Auch der Gesetzgeber hält die PPP-Richtlinie nicht für ausreichend. Er hat den Gemeinsamen Bundesausschuss beauftragt, sie bis zum 1. Januar 2022 um Mindestvorgaben für Psychotherapeut:innen zu ergänzen. Auch der Gesetzgeber will die psychotherapeutische Versorgung insbesondere in den psychiatrischen Krankenhäusern verbessern, weil das strukturelle Defizit an Psychotherapie in den Kliniken bisher nicht beseitigt ist. Patient:innen haben ein Anrecht auf eine wirksame Behandlung nach dem allgemein anerkannten wissenschaftlichen Stand (§ 2 Absatz 1 SGB V). Hierzu gehört insbesondere auch Psychotherapie, ausreichend dosiert und spezifisch je nach psychischer Erkrankung eingesetzt. Dazu gehört auch, dass Krankenkassen den Krankenhäusern die dafür notwendigen Stellen für Psychotherapeut:innen und Ärzt:innen finanzieren. Die Kassen sollten im Gegenzug kontrollieren dürfen, ob die Mittel tatsächlich dafür eingesetzt wurden. 

Dr. Dietrich Munz ist Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer.

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