Unser Wirtschaftsstandort hat in den letzten Jahren stark an Attraktivität verloren. Auf EU-Ebene wurde mit dem „Green Deal“ viel reguliert und zu wenig investiert. Die bürokratischen Regelungen und Berichtspflichten für Unternehmen haben überhandgenommen und drohen, den Mittelstand und kreatives Unternehmertum zu ersticken. Ein Musterbeispiel im Medizintechnik-Bereich ist die bürokratische EU-Medizinprodukte-Verordnung, kurz: MDR, die dafür sorgt, dass immer mehr Unternehmen ihre Produkte in den USA zulassen und Europa meiden.
Gefahr erkannt. Gefahr gebannt? Die EU-Kommission will die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft stärken, setzt auf den Draghi-Plan und einen pragmatischeren „Clean Industrial Deal“ und will auch die MDR rasch verbessern.
Mehr reguliert, weniger investiert
Gefahr erkannt auch in Deutschland? Bei den EU-Regeln setzen die nationalen Regulierer meist noch einen drauf, Stichwort „gold plating“. Siehe Lieferketten-Sorgfaltspflichtengesetz. Wir haben in Deutschland noch mehr reguliert und noch weniger investiert. Zudem sind die Energiepreise und die Unternehmenssteuern mit die höchsten in Europa. Die deutsche Politik will gegensteuern. Kanzler Scholz hat kurz vor dem Ampel-Aus zum „Industriegipfel“ eingeladen. Wirtschaftsminister Habeck führt einen Wirtschaftsdialog. Es wird viel über die Automobilindustrie und den Maschinenbau gesprochen. Und viel zu wenig über die Gesundheitswirtschaft als eine der Leitbranchen der Zukunft. Dabei sind in der Gesundheitswirtschaft mehr Menschen als in der Automobilbranche tätig. Sie ist ein Wachstumstreiber für die gesamte Volkswirtschaft.
Die industrielle Gesundheitswirtschaft besteht aus drei Branchen: Pharma, Medizintechnik und Biotech. Immerhin: Die Pharmabranche steht seit der Corona-Pandemie und durch die drohenden Engpässe bei Medikamenten wieder stärker im öffentlichen Bewusstsein und auf der politischen Agenda. Eine „nationale Pharma-Strategie“ soll Unternehmen zurück nach Deutschland holen und Investitionen am Standort anlocken.
Zahlenwerk stärkt Medtech-Branche
Welche Relevanz hat die Medizintechnik im Vergleich zu Pharma? Ein Blick auf die offiziellen Zahlen der Bundesregierung zeigt: Die MedTech-Branche steht für mehr als doppelt so viel Arbeitsplätze sowie mehr Produktionswert, Bruttowertschöpfung und Ausstrahleffekte auf andere Branchen. Der Vergleich aus der Gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung, kurz GGR, im Detail:
- Arbeitsplätze: Nach der GGR, die das WifOR-Institut im Auftrag der Bundesregierung erstellt, arbeiten 212.400 Menschen für die Medizintechnik in Deutschland an Lösungen für unsere gesundheitlichen Bedürfnisse. Im Vergleich dazu: Die Pharmaindustrie beschäftigt nach der GGR in Deutschland im Bereich der Humanarzneimittel 92.700 Erwerbspersonen – weniger als die Hälfte.
- Produktionswert: Der Produktionswert, also der Wert der hergestellten Güter, verläuft für die Medizintechnik nach der GGR in den letzten zehn Jahren deutlich stetiger und weniger volatil als für die Pharmabranche. Seit 2023 übertrifft die Medizintechnik die Humanarzneimittel mit einem Produktionswert von 43,1 Milliarden Euro gegenüber 38,9 Milliarden Euro. Dies entspricht einer absoluten Zunahme um 12,7 Milliarden Euro seit dem Jahr 2014 beziehungsweise einem Wachstum von jährlich 3,9 Prozent (Humanarzneimittel: 2,6 Mrd. Euro bzw. 0,8 Prozent).
- Bruttowertschöpfung: Hinsichtlich der Bruttowertschöpfung, also dem Wert der produzierten Güter abzüglich der dafür bezogenen Vorleistungen, ergibt sich ein ähnliches Bild. Auch hier übertrifft die Medizintechnik mit einer Bruttowertschöpfung von 18,2 Milliarden Euro die Humanarzneimittel mit 16,8 Milliarden Euro. Während die Medizintechnik seit 2014 eine Zunahme der Bruttowertschöpfung um 4,4 Milliarden Euro verzeichnet, kann nach der GGR für die Humanarzneimittel einen Rückgang um 0,9 Milliarden Euro festgestellt werden.
- Ausstrahleffekte: Durch die große Verflechtung der Medizintechnik mit der Gesamtwirtschaft kommen indirekte Effekte in Höhe von 13,5 Milliarden Euro und induzierte Effekte in Höhe von 6,6 Milliarden Euro hinzu. Der Gesamteffekt der Medizintechnik-Branche liegt damit bei 38,3 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung. Im Vergleich dazu die Zahlen der Pharmabranche aus der GGR: Durch indirekte (8,6 Mrd. Euro) und induzierte Effekte (4,1 Mrd. Euro) ergibt sich in der Gesamtbetrachtung ein ökonomischer Fußabdruck von 29,6 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung – also deutlich geringere Ausstrahleffekte als in der Medizintechnik.
Soweit die nüchternen Zahlen der GGR aus dem offiziellen „Dashboard“ der Bundesregierung.
Deutschland noch Weltspitze
Die Pharma-Branche soll zurückgeholt werden. Wir rufen der Bundesregierung zu: Die Medizintechnik ist noch da! Wir haben hier am Standort noch eine starke Medizintechnik. Wir haben noch Tausende mittelständische Unternehmen und Familienbetriebe, die hier forschen und produzieren. Wir haben hier noch die Produktionsstätten und die Zulieferer. Die MedTech-Branche steht für Innovationskraft, Versorgungssicherheit, Exportstärke und Arbeitsplätze.
Wenn es um die wirtschaftliche Zukunft des Landes geht, ist die Medizintechnik mit die größte Chance. Deutschland ist in der Medizintechnik Weltspitze. Noch. Denn unsere Standortbedingungen haben sich deutlich verschlechtert. Die Herbstumfrage 2024 des BVMed zeigt: Der Medizintechnik-Standort Deutschland ist stark gefährdet.
Forderung nach ressortübergreifender MedTech-Strategie
Dabei hat die MedTech-Branche Lösungen für die großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit: für die demografische Entwicklung mit immer mehr älteren und multimorbiden Menschen, für den Fachkräftemangel. Medizintechnologien tragen zu einer besseren Patienten-Versorgung, zu effizienteren Prozessen und Entlastung des medizinischen Personals bei. Es geht nur mit MedTech. Medizintechnik muss deshalb in allen Versorgungsbereichen und Reformvorhaben mitgedacht werden – als Teil der Lösung!
Was muss jetzt getan werden? Wir brauchen eine eigenständige MedTech-Strategie mit ressortübergreifend abgestimmten Maßnahmen. Der BVMed steht hier im Schulterschluss mit anderen Wirtschaftsverbänden zu einem Dialog mit der Politik bereit, um gemeinsam an konstruktiven Lösungen zu arbeiten. Wir brauchen ein klares Bekenntnis der Politik zum Medizintechnik-Standort Deutschland. Der neuen Bundesregierung bietet sich mit der Medizintechnik im Land eine große Chance. Sie sollte sie nutzen.
Mark Jalaß ist Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Medizintechnologie (BVMed).