Wer heute Fernsehwerbung schaut, sieht chronisch kranke Menschen, die trotz medizinischer Einschränkungen ein glückliches Leben zu führen scheinen. Geradezu tiefenentspannt wirkt der Diabetespatient mit seinem handlichen technischen Gerät, das regelmäßig, schmerzlos und exakt den Blutzuckerspiegel misst, vor kritischen Zuständen warnt und gegebenenfalls auch Daten an den Hausarzt überträgt. Möglich machen all dies sogenannte „Medical Devices“, also digitale Medizintechnik-Geräte, ohne die viele moderne Therapieformen mittlerweile gar nicht mehr denkbar wären.
Bessere Analytik und Therapie durch Digitalisierung
Die Digitalisierung transformiert nahezu sämtliche Bereiche des modernen Lebens und macht dabei auch nicht vor der Medizin Halt. Das bietet große Chancen, alte Krankheiten mit neuen Methoden zu bekämpfen. Die digitale Medizintechnik hat vielfältige Einsatzmöglichkeiten in Diagnostik, Therapie, Monitoring oder Kommunikation zwischen behandelnden Ärzten und Patienten. Was vor zehn Jahren die Gentherapie und vor fünf Jahren die mRNA-Technologie waren, sind aktuell die digitalen Medical Devices.
Aus drei Gründen ist die neue Medizintechnik von Relevanz. Erstens erzielen digitale Geräte mittlerweile in vielen Fällen sogar bessere Therapieerfolge als klassische Arzneimittel. Ein Beispiel dafür sind chronisch-entzündliche Krankheiten, für die oftmals der Vagusnerv ursächlich ist. Dank wissenschaftlicher Forschung kann der Vagusnerv mit spezialisierten Medical Devices elektronisch stimuliert werden. Herkömmliche Medikamente sind dann in vielen Fällen nicht mehr nötig. Zweitens greifen bei digitalen Devices stets Analytik und Therapie online ineinander. So ist etwa ein Diabetiker in der Lage, seinen Blutzuckerspiegel eigenständig zu überwachen und diese Daten ohne großen Aufwand in Echtzeit mit seinem Arzt zu teilen, der dann das nötige Insulin sehr viel genauer dosieren kann. Und drittens potenzieren sich interdisziplinäre Therapieansätze durch die ständig zunehmende Bedeutung von Daten. Um diese zu sammeln, sind immer Devices erforderlich, mit denen körperfunktionale Parameter gemessen werden können, um sie anschließend auszuwerten.
Diagnostik und Echtzeit-Monitoring durch künstliche Intelligenz
Auch in der Medizin ist dabei der zunehmende Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) ein klarer Trend. Insbesondere bei der Mustererkennung erweist sich KI als sehr hilfreich. Zur Erkennung von Krebserkrankungen werden häufig Computer- (CT) oder Magnetresonanztomographie (MRT) verwendet. Werden ausgebildete Fachärzte bei der Auswertung von CT- und MRT-Bildern durch KI unterstützt, lässt sich die Quote an Fehldiagnosen bereits jetzt auf etwa ein Prozent reduzieren.
Im Echtzeit-Monitoring von Patientendaten kann KI ebenfalls praktisch angewendet werden. Dafür müssen Patienten lediglich einen Tracker wie ein Armband oder eine Smart-Watch tragen, mit der die relevanten Körperdaten in Echtzeit aufgezeichnet werden. Anschließend werden diese von KI ausgewertet: weichen Parameter wie etwa Blutzuckerspiegel oder Blutdruck von bestimmten Zielwerten ab, erhält der Patient eine Warnung und kann entsprechend gegensteuern. Weit verbreitet sind mittlerweile auch Gesundheits-Apps, die auf Smartphones und anderen Endgeräten installiert werden und somit das Monitoring von Daten erheblich vereinfachen. Gerade chronisch kranke Menschen können ihre Therapien auf diese Weise deutlich einfacher managen.
Selbständige Eingriffe smarter Medizintechnik
Doch moderne Medizintechnik geht inzwischen noch einen Schritt über das Echtzeit-Monitoring von Körperfunktionen und Krankheiten hinaus. Manche Devices können bereits aktiv auf die zuvor gemessenen Werte reagieren. Dafür werden die smarten Implantate direkt im Körper eingesetzt, beispielsweise im Gehirn oder Herz des Patienten. Das Device übernimmt dort seine Monitoring-Aufgaben und misst bioelektrische Signale und andere Körperdaten. Wird ein bestimmter Schwellwert über- oder unterschritten, sendet das implantierte Gerät keine Meldung mehr auf ein Smartphone, sondern greift direkt regulativ in den menschlichen Körper ein.
Ein klassisches Beispiel dafür sind Herzschrittmacher, die bei Arrhythmien des Herzschlags über Elektroden elektrische Impulse an das Herz abgeben und es so wieder zu einem normalen Takt bringen. Inzwischen können Medical Devices auch bei Epileptikern einen nahenden Anfall erkennen und durch entsprechende elektrische Stimuli verhindern.
Die Pharmaindustrie im Wandel
Die Pharmaindustrie steht also vor einem bedeutenden Strukturwandel hin zur digitalen Medizintechnik, den viele Unternehmen frühzeitig erkannt haben. Große Konzerne haben bereits vor Jahrzehnten damit begonnen, ihre Aktivitäten im Bereich der Medical Devices auszubauen und stellenweise durch externe Partner zu erweitern. Dafür haben sie auch massiv in neue Technologien und die darauf ausgerichteten Spezialunternehmen investiert.
Im Zuge dessen hat sich inzwischen der Fokus in der Pharmaindustrie verschoben. Jahrelang lag der Schwerpunkt auf der Entwicklung neuer Wirkstoffe, die ihre Ursprünge primär in der Chemie, der Biotechnologie oder der Gentechnik hatten. Mittlerweile suchen Unternehmen nicht mehr nur nach Wirkstoffen, sondern nach neuen Kombinationen von Arzneimitteln und digitalen Devices. In der Konsequenz wachsen pharmazeutische und medizintechnische Entwicklungen immer mehr zusammen. Versierte Pharmazeuten, Chemiker, Biologen und Biotechnologen werden weiterhin benötigt, sind aber potenziell durch die wachsende Relevanz beispielsweise von Data Scientists oder Software-Ingenieuren in ihrer Vormachtstellung bedroht.
Etwas provokant könnte man die Situation der Pharma- mit der der Automobilindustrie vergleichen. Auch die steht vor größten technologischen Herausforderungen, seit der Verbrennungsmotor in Misskredit geraten ist und neue Antriebsformen die Straße erobern. Neue Ansätze wie autonomes Fahren oder die E-Mobilität können von alteingesessenen Unternehmen wie Mercedes oder VW nicht ohne Hindernisse integriert werden. Disruption ist immer auch mit Schmerzen verbunden. In einer ähnlichen Situation könnte sich schon bald auch die Pharmaindustrie wiederfinden. Die individuelle Vorbereitung der Unternehmen auf diese Herausforderungen wird mit Sicherheit über die künftige Verteilung von Marktanteilen in der Branche entscheiden.
Dr. Juan Rigall ist Managing Director der Strategie- und Organisationsberatung Santiago Advisors und berät seit 1996 Konzerne und Marktführer im Mittelstand, vor allem in den Life Science und High Tech Industrien. Er studierte Wirtschaftsingenieurwesen/Maschinenbau an der Technischen Universität in Darmstadt und promovierte ebenda in den Finanzwissenschaften.