„Nicht überall in Deutschland haben Menschen die gleichen Chancen, ihre Ansprüche auf Beratung, auf Vermittlung von Angeboten der Prävention und der medizinischen Versorgung sowie auf unbürokratische Hilfe bei der Klärung sozialversicherungsrechtlicher Fragestellungen zu verwirklichen.“ So lautete der einleitende Satz des ersten Referentenentwurfs für ein Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) noch im Juni 2023.
Mit dieser allzu richtigen Feststellung war der inhaltliche Schwerpunkt gesetzt. Entsprechend folgerichtig waren dann auch die den Kommunen im Gesetzentwurf angebotenen strukturellen Optionen – Gesundheitskioske, Gesundheitsregionen, Primärversorgungszentren – sowie die zumindest in Teilbereichen eingeforderte gemeinsame Finanzierungsverantwortung der gesetzlichen und privaten
Krankenkassen. Ein konsequenter Weckruf kurz vor dem Systemversagen? Eine überfällige politische Wahrnehmung der nicht in der Versorgungslogik angekommener Bevölkerungsgruppen? Oder auch nur ein kleiner, wenn auch überaus wichtiger Schritt weg von einer verkrusteten, medizinfixierten Sichtweise von Gesundheit hin zu einer Praxis der „Health in all Policies“?
Die vagen Hoffnungen auf einen perspektivischen Strukturwandel im Gesundheitssystem hat der Referentenentwurf des Ministeriums für Gesundheit vom 8. April 2024 vollumfänglich entsorgt. Nach wohl zwischenzeitlich erfolgter Abstimmung in den Ressorts ist im vorgeschlagenen Gesetzestext von den strukturell zukunftsweisenden, koordinierenden und Rechtskreis-übergreifenden Ansätzen nichts außer Leerstellen geblieben.
Eine inhaltliche 180-Grad-Wendung
Zu bewundern ist allerdings eine Volte, die in der Kür nicht hoch genug bewertet werden kann: Innerhalb von zehn Monaten und nach etlichen Pirouetten eine inhaltliche 180-Grad-Wendung hin zur Endbudgetierung der hausärztlichen Versorgung als zentralem Top einer Gesetzesnovelle – das ist schon aller Ehren wert.
Nicht zu vergessen neben weiteren kleineren Aspekten die gesetzlich verankerte Erlaubnis zur Nutzung digitaler Optionen zur Beratung, Kommunikation und Beschlussfassung: Ein Meilenstein und ein einmaliges Vorbild für forcierte Digitalisierung und Bürokratieabbau. Wir können also beruhigt sein. Es geht nicht nur im Gesundheitssystem, sondern auch in den meisten anderen Politikbereichen stürmisch voran in den Wagenburgen: Der Doppel-Wumms hat, wie es scheint, einen nahezu vollständigen Hörverlust, der von der Bazooka aufgewirbelte Staub wohl erhebliche Sichtbeeinträchtigungen und die Andeutung einer Zeitenwende nahezu katatone Reaktionsmuster zur Folge.
Die von Steffen Mau attestierte „Veränderungserschöpfung“ trifft augenscheinlich nicht nur Einzelpersonen und Gruppen, sondern auch die Politik mit voller Wucht. Angesichts kumulierter Krisen und unter dem Druck über Jahrzehnte verdrängter Instandhaltungs-, Gestaltungs- und Sicherungsaufgaben scheint der Rückzug in das Altbekannte und damit in die Einzelressorts der erfolgversprechendste Weg. Reale Komplexität ausgesperrt, Brücken geschlossen, Türen zu – es gibt ja im Binnenraum genügend zu tun mit den allzu bekannten lobbygetriebenen Verteilungskämpfen und der aktiven Verteidigungsstrategie gegenüber jeglichen Gestaltungsforderungen und Zukunftsmodellen. Notfalls kann man ja immer noch in Analogie über zwei gesundheits-, bildungs-, infrastruktur- und digitalfreie Tage nachdenken. Und sollte das Ganze dann doch implodieren, so war man zumindest nicht aktiv daran beteiligt.
Belastbare Resilienz sieht anders aus
Solche Verhaltensmuster als Variante des Totstellreflexes mögen menschlich durchaus verständlich sein. In der Politik eines demokratischen Staates aber haben diese keinen Platz. Dessen Aufgabenkatalog beinhaltet unter anderem die Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit und damit die Umsetzung der Gestaltungserfordernisse für Chancen- und Zugangsgerechtigkeit auch im Rahmen der gesundheitlichen Versorgung. Diesem Anspruch wird der aktuelle Referentenentwurf zum GVSG in keiner Weise gerecht.
Vielmehr ignoriert dieser die bislang nicht im Gesundheits- und Sozialsystem Angekommenen sowie die sich in diesem Verlaufenden in gewohnter Art und Weise. Zusammen mit dem nunmehr nahezu vollständigen Verzicht auf Elemente eines zukunftsorientierten Strukturwandels trägt das Gesetzesvorhaben in der aktuellen Form damit nicht unerheblich zu einer fortbestehenden Exklusion keineswegs kleiner Bevölkerungsgruppen bei. Gleichzeitig konterkariert der Entwurf nicht nur mehrere Punkte der Nationalen Gesundheitsziele, sondern er zementiert ein auch im internationalen Vergleich nur suboptimal effizientes und den Anforderungen der Zukunft immer weniger gewachsenes Versorgungssystem.
Belastbare Resilienz sieht anders aus, beinhaltet stets auch die kontinuierliche Anpassung des Systems an sich wandelnde Rahmenbedingungen und damit die Ausschöpfung struktureller und prozessualer Gestaltungsräume. Das Argument der Nichtfinanzierbarkeit grundsätzlich als notwendig erkannter Maßnahmen greift insofern erst dann, wenn die gestalterischen Möglichkeitspotentiale auch hinsichtlich absehbarer Synergien und linearer Prozessoptimierung im intersystemischen Kontext ausgeschöpft sind.
Diesen Weitblick allerdings lässt weder die gesundheitspolitische Praxis noch der aktuelle GVSG-Referentenentwurf erkennen. Gesundheitliche Versorgungsaspekte sind das eine – gesellschaftliche Teilhabe das andere. Könnte man zunächst meinen, trifft allerdings nicht zu: Je höher die Zugangsschwellen zu Angeboten und Systemebenen, umso geringer ist erfahrungsgemäß deren Akzeptanz und die Bereitschaft, sich mit der anbietenden Gesellschaft insgesamt zu identifizieren.
Ein schmaler Grat gerade in für Demokratien kritischen Zeiten und gleichzeitig eine Messlatte für die politische Praxis auch in noch so kleinen Gesetzesvorhaben. Gesetzliche Rahmen haben unmittelbare Folgen für die Wahrnehmung eines demokratischen Gemeinwesens, die Partizipation und die Entscheidung, sich über Wahlen an der politischen Gestaltung einer Gesellschaft zu beteiligen. Insofern ist der GVSG-Entwurf nicht nur systemimmanent von Interesse, sondern in seiner exemplarischen Positionierung und deutlichen Beharrungstendenz von hoher gesamtpolitischer Relevanz. Offene und zukunftsfähige Gesellschaft sieht anders aus.
Hans Werner Höpp ist klinischer Kardiologe, emeritierter Hochschullehrer der Universität zu Köln und Leiter des gemeinnützigen Forschungsinstitutes für anwendungsnahe Entwicklungs- und Versorgungsforschung.