Die Impfpflicht im patientenorientierten Bereich des Gesundheitswesens ist beschlossene Sache. Deutschland folgt damit dem Trend der europäischen Nachbarstaaten. In der Regelungstechnik folgt das Gesetz dem Masernschutzgesetz aus dem Jahr 2019. Es wird keine unmittelbare Impfpflicht geregelt, sondern die Impfung als Voraussetzung für die Tätigkeit in einer der aufgezählten Gesundheitseinrichtungen konstituiert.
Schon in der Anhörung im Hauptausschuss wurde gefragt, warum – anders als beim Masernschutz – Berufstätige in Schulen und Kitas ausgenommen seien. Weshalb nicht den gesamten öffentliche Dienst in die Impfpflicht einbeziehen, mag man nachfragen, wenn doch erklärtes Ziel des Gesetzes nicht nur der Schutz besonders verletzlicher Personen, sondern auch die weitere Steigerung der Impfquote ist? Sektorale Impfpflichten fordern den Grundsatz der Gleichbehandlung besonders heraus. Das Virus endet weder an der Schultür noch der Krankenhauspforte.
Vorrang für kollektiven Gesundheitsschutz
Der Gesetzgeber dürfte sich eine handlungsleitende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Masernschutz gewünscht haben. Hier sind noch Verfassungsbeschwerden von Eltern anhängig, die von Vereinen unterstützt werden, die sich für den Vorrang individueller Impfentscheidungen einsetzen. Zwar wurden die Eilanträge gerichtet auf die Aussetzung des Gesetzes schon im März 2020 zurückgewiesen. Zu der für dieses Jahr in Aussicht gestellten Entscheidung in der Hauptsache ist es nicht mehr gekommen. Ohnehin wurde die Durchsetzung des Masernschutzgesetzes von der Politik wegen der Pandemie bis Ende dieses Jahres ausgesetzt.
Vergleicht man beide Regelungskontexte, lassen sich bereits jetzt Schlüsse für den verfassungsrechtlichen Maßstab und damit für die Voraussetzungen und Grenzen von Impfpflichten und auch für die Frage der verfassungsrechtlichen Vereinbarkeit einer allgemeinen Corona-Impfpflicht ziehen. Die Entscheidung im Masern-Eilverfahren lässt bereits erkennen, dass der kollektive Gesundheitsschutz Vorrang vor dem Recht auf individuelle Impfentscheidung beanspruchen kann und dem Gesetzgeber ein weiter Beurteilungsspielraum zugestanden wird.
Die Entscheidungen zur Bundesnotbremse und zu den Ausgangssperren lassen überdies den Schluss zu, dass der Beurteilungsspielraum für eine allgemeine Corona-Impflicht noch weiter reicht. Ziel einer allgemeinen Impfpflicht wäre die perspektivische Öffnung des gesellschaftlichen Lebens, und nicht nur die Begrenzung von Kontakten zur Kontrolle eines akuten Infektionsgeschehens. Diese Öffnung betrifft weit mehr Grundrechtsbelange und Grundrechtsträger, welche die Erwartung einer Grundimmunisierung rechtfertigen können.
Corona bedroht weit mehr Menschen als Masern
Je größer das zu erwartende Infektionsgeschehen und je schwerwiegender die Folgen von Erkrankungen und intensiv-medizinischer Behandlung, umso eher ist das Instrument einer Impfpflicht für jedermann geeignet, erforderlich und angemessen, das Infektionsgeschehen zu kontrollieren und mit den Belangen anderer Grundrechtsträger in Einklang zu bringen. Umgekehrt können umso mehr Säumige hingenommen werden, je geringer das Infektionsgeschehen ausfällt, je weniger schwer sich Krankheitsverläufe darstellen und je höher die Impfrate insgesamt ist.
Masern sind noch ansteckender als Corona. Im Jahr 2018 zählte man aber „nur“ 500 Fälle. Das Corona-Virus bedroht dagegen in weit größerem Umfang. Bei den Masern verfügen 95 Prozent der Schulanfänger über eine Erstimpfung und 93 Prozent die lebenszeitimmunisierende Zweitimpfung. Die Impfquote gegen Corona ist dagegen weit von einer Grundimmunisierung der Bevölkerung entfernt. Die Masern-Impfpflicht konnte mit dem Argument kritisiert werden, die Infektionstreiber seinen nicht die impfverpflichteten Kinder, sondern die ab 1970 geborenen Erwachsenen. Dagegen kann bei Corona eine mögliche Zielgruppe primär Impfverpflichteter nicht ausgemacht werden.
Körperlicher Eingriff auch bei Alkohol- und Vaterschaftstest
Die Kritik an einer Corona-Impfpflicht entzündet sich wie bei den Masern am Vorwurf des staatlichen Übergriffs auf die körperliche Unversehrtheit. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Übergriff unmittelbar oder mittelbar durch Druck auf andere Grundrechtsbereiche wie die Berufsfreiheit erfolgt. Tatsächlich geht es aber weniger um den körperliche Eingriff oder die körperliche Untersuchung, welche dem Recht nicht völlig fremd sind, denkt man an eine Blutalkoholuntersuchung oder einen Gentest zur Feststellung der biologischen Vaterschaft.
Kinderimpfungen werden regelmäßig trotz körperlichen Eingriffs hingenommen. Streiten sich Eltern über die Frage einer notwendigen Impfung eines Kindes, übertragen Gerichte regelmäßig dem Elternteil die Gesundheitssorge, der die von der STIKO empfohlenen Impfungen befürwortet. Eine Impfung ist regelmäßig auch nicht mit Schmerzen verbunden; die Impfreaktionen werden als belastend, aber nicht als gravierend eingeschätzt. Von der Sicherheit und des Überwiegens eines individuellen Nutzens darf der Gesetzgeber in der Regel mit der Zulassung eines Impfstoffes ausgehen. Hier hatte auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung vom April 2021 keine Bedenken, als er Pflichtimpfungen in Tschechien bestätigte.
Vielmehr geht es den Kritikern um das Recht auf individuelle Impfentscheidung. Es geht um das Recht, frei darüber entscheiden zu dürfen, medizinische Maßnahmen anzunehmen oder abzulehnen. Dieses Recht ist zentraler Bestandteil des Patientenrechts und des ärztlichen Berufsrechts und gilt selbstverständlich auch für präventive Maßnahmen der Gesundheitssorge.
Grenzen des Rechts auf individuelle Entscheidung
Infektionskrankheiten wie Masern und Corona unterscheiden sich von anderen Krankheitsverläufen aufgrund ihrer Übertragbarkeit. Dies setzt nun auch dem Recht auf individuelle Impfentscheidung Grenzen.
Maßstab der verfassungsrechtlichen Abwägung auf der Ebene der Impfverpflichteten ist damit die Zumutbarkeit infektionspräventiver Maßnahmen. Konnte man die bußgeldbewerte Masernimpfpflicht für Kinder mit Blick auf ein geringes Infektionsgeschehen, die hohe Impfquote und das Recht der Eltern auf individuelle Gesundheitssorge als unverhältnismäßig kritisieren, gelingt das bei der Corona-Impfpflicht nicht. Hier steht einer minimal-invasiven, präventiven Maßnahme bei Erwachsenen das wahrscheinliche Szenario eines sich stets wiederholenden Infektionsgeschehens mit schweren Krankheitsverläufen, zahlreichen Todesfällen und umfangreichen Freiheitsbeschränkungen für jedermann gegenüber.
Eine allgemeine Impfpflicht mutet allen das Gleiche zu. Sie korrespondiert überdies mit dem allgemeinen Anspruch auf Krankenbehandlung, der unabhängig davon besteht, ob der Einzelne selbst alle Mittel der Prävention getroffen hat.
Dr. Susann Bräcklein ist Master of Medicine, Ethics and Law und Rechtsanwältin in der Berliner Anwaltskanzlei JORZIG. Sie war lange Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht.