Im Kampf gegen seltene Erkrankungen ist zweierlei von besonderer Bedeutung: intensiverer Datenaustausch und mehr Patienten-Partizipation. Diesen Konsens fanden die Teilnehmer eines Gesundheits-Fachforums im Berliner Tagesspiegel-Haus. Ob für die stärkere Beteiligung von Betroffenen auch eine institutionelle Mitbestimmung in wichtigen Gesundheitsgremien nötig wäre, blieb jedoch strittig.
„Wir haben schon unheimlich viel erreicht“, sagte Mirjam Mann vom Vorstand der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (Achse). So säßen im Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA), wo über das Leistungsspektrum für 70 Millionen gesetzlich Versicherte entschieden wird, inzwischen auch „eine Menge Menschen, die selber krank sind und sich dort mit ihrer Patientenerfahrung sehr wertgeschätzt fühlen“. Die Patientenvertreter dort dürfen nicht nur zuhören, sondern auch mitberaten und Anträge stellen, sie besitzen aber nach wie vor kein Stimmrecht. Sie finde das in Ordnung, meinte die Funktionärin. Wenn Patienten und Selbsthilfeorganisationen mitentscheiden dürften, müssten sie zu allem und jedem auch unabhängig von eigener Betroffenheit einen Konsens finden – was zu Streit führen könne und auch starke Institutionalisierung erforderlich machen würde, die von vielen Ehrenamtlichen nicht zu leisten sei. „Das Wichtigste ist, dass wir mit unserem Erfahrungswissen gehört werden.“
„Nicht ohne uns über uns“
Ein überraschende Position aus dem Munde der Vertreterin von Patienten, die sich als „Waisenkinder der Medizin“ fühlen und auch bezeichnen. Bei etlichen Teilnehmern stieß sie denn auch prompt auf Widerspruch. Die Grünen-Abgeordnete Kirsten Kappert-Gonther etwa verlangte volles GBA-Stimmrecht für Patientenvertreter und zitierte den Slogan aus der Behindertenbewegung „Nicht ohne uns über uns“. Der Hinweis auf fehlende Professionalität sei „ein Totschlagargument“, sagte sie. Patienten seien „Profis in eigener Sache“, ihre persönlichen Erfahrungen mit Krankheiten „mindestens ebenso wichtig“ wie Kompetenz durch jahrelange Gremiensitzerei. Stefan Etgeton, Gesundheitsexperte bei der Bertelsmann-Stiftung, pflichtete bei, wenn auch etwas differenzierter. Womöglich seien manche Patientenvertreter und ihre Organisationen „noch nicht so weit“, um mitentscheiden zu können, räumte er ein. Aber man müsse doch „wenigstens das Ziel benennen“. Es sei eine Strategie von Systemkonservativen, die vor Jahren noch bekämpfte Patientenbeteiligung nun über den grünen Klee zu loben, damit sie nun wenigstens nicht noch forciert werde.
Kassenexperte: Bisher wurde noch niemandem eine teure Therapie verwehrt
Tatsächlich fühlen sich gerade Patienten mit seltenen Erkrankungen – zusammengenommen vier Millionen Menschen in Deutschland – zu wenig wahrgenommen im System. Arzneihersteller haben wenig Interesse, für derart kleine Patientengruppen Medikamente zu entwickeln. Krankenkassen stöhnen über hohe Behandlungskosten. Und für die Mediziner sind derart Erkrankte eine enorme Herausforderung. Viele dieser rund 7.000 sind nur Spezialisten bekannt. Bis sie diagnostiziert werden, vergehen im Schnitt knapp fünf Jahre, 40 Prozent der Patienten erhalten mindestens eine Fehldiagnose. Und am Ende gibt es nur für fünf Prozent eine wirksame und dann oft sehr teure Therapie.
Was in dem Forum die Frage aufwarf, was eine oft kaum messbare Leidenslinderung oder Lebensverlängerung um nur wenige Monate mit oft extrem starker Belastung durch Arznei-Nebenwirkungen kosten darf und wie viel die Allgemeinheit dafür aufzubringen bereit sein sollt. Trotz der Debatten um Millionen Euro teure Medizin sei bisher noch niemandem eine Therapie verwehrt worden, betonte Volker Röttsches, Leiter der DAK-Landesvertretung in Berlin. Bevor man über Rationierung aus Kostengründen rede, sollten Systemreserven genutzt und bestehende Fehl- oder Überversorgung abgebaut werden. Widerspruch kam hier von Stefan Mundlos, Professor am Berliner Centrum für Seltene Erkrankungen und dem Institut für Medizinische Genetik und Humangenetik an der Berliner Charite. Aus seiner Sicht ist es nicht zu früh, sich über die Finanzierbarkeit neuer Therapien durch das Solidarsystem Gedanken zu machen. Schließlich sei erkennbar, „was auf uns zukommt“. Er erwarte für die nächsten Jahre einen „großen Schub“ bei der Entdeckung und auch Behandlung seltener Krankheiten.
Schon die Diagnose ist für Betroffene immens wichtig
Doch was ist mit teurer Diagnostik um der Diagnostik willen? In Vergütungsverhandlungen werde „schon mal diskutiert, ob die unbedingt sein muss, wenn es für die entdeckte Krankheit dann gar keine Therapie gibt“, räumte Kassenfunktionär Röttsches ein. Hier konterte die Patientenvertreterin Mann sofort. Auch bloße Diagnose sei für Erkrankte immens wichtig, sagte sie. Wer wisse, woran er leide und welche Prognose es für ihn gebe, könne sich darauf einstellen, so ihr Argument „Er weiß, was auf ihn zukommt, rennt dann vielleicht nicht mehr von Arzt zu Arzt, sichert seine Familie ab, lebt vielleicht ganz anders.“
Die wichtige Rolle von Daten und Registern für Patienten mit seltenen Erkrankungen belichtete schließlich eine weitere Patientenvertreterin. In Deutschland sei solche Vernetzung lange von ehrgeizigen Medizinern blockiert worden, die eine Datenherausgabe verweigert hätten, sagte Anke Widenmann-Grolig von der Federation of Esophageal Atresia and Tracheo-Esophageal Fistula Support Groups. Erst mit Europa sei nun „Schwung in die Sache gekommen“. Der CDU-Abgeordnete Georg Kippels führt das auch auf das Engagement von Gesundheitsminister Jens Spahn zurück. Es gehe jetzt darum, „nicht immer nur vom Datenschutz, sondern auch vom Datenschatz zu sprechen“, forderte er. Die deutsche Ratspräsidentschaft könne hier der Startschuss für deutlich mehr Bewegung sein.
Bei der Organspende habe er für die Entscheidungslösung gestimmt, berichtete der CDU-Politiker. Bei der Datenspende sei er jedoch „für eine Widerspruchslösung“. Wobei ihn das Wort Spende störe, weil es etwas von Großzügigkeit beinhalte. Tatsächlich gehe es schlicht und sachlich „um die Bereitschaft, mit eigenen Daten einen Beitrag für die Forschung zu leisten“. Eine Mitwirkung, die vielen Menschen und womöglich auch einem selber Vorteile bringe. Das müsse man noch stärker betonen. Gerade Patienten mit seltenen Krankheiten könnten von intensiverem Datenaustausch enorm profitieren.