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Standpunkte Plattformen als neue Perspektiven für Innenstädte

Bassel Soukar
Bassel Soukar, Head of Retail bei Wolt Germany Foto: Jonathan Hefner

Online-Plattformen sind längst mehr als eine Bedrohung für den lokalen Einzelhandel, schreibt Bassel Soukar im Standpunkt. Der Head of Retail bei Wolt Germany sieht sie vielmehr als eine Unterstützung für Läden, die durch Kooperation mit Plattformen neue Kundengruppen erreichen und sich so gegen Amazon und Co. behaupten können. Er plädiert für eine flexible Plattformregulierung durch die nächste Bundesregierung.

von Bassel Soukar

veröffentlicht am 22.04.2025

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Deutschlands Wirtschaft steht an einem entscheidenden Wendepunkt: Konjunkturelle und strukturelle Krisen, demografischer und digitaler Wandel sowie ein verändertes geopolitisches Umfeld fordern das deutsche Wirtschaftsmodell heraus. Neben der Industrie, die oft im Mittelpunkt der Debatte steht, spürt auch der Einzelhandel die Auswirkungen dieser Entwicklungen deutlich.

Viele Innenstädte kämpfen mit sinkender Kundenfrequenz, lokale Geschäfte stehen im Schatten großer Online-Plattformen, und Beschäftigte ringen um faire, flexible Arbeitsbedingungen. Gerade jetzt, da das exportorientierte Modell Deutschlands unter Druck gerät, ist ein starker Einzelhandel unerlässlich.

Mit der geplanten EU-Plattformrichtlinie steht die neue Bundesregierung vor der Aufgabe, faire Arbeitsbedingungen zu sichern – ohne die Innovationskraft von Plattformen und die geschätzte Flexibilität für Beschäftigte zu gefährden. Wie Plattformen dabei nicht nur den Handel, sondern auch den Arbeitsmarkt stärken können, zeigt ein genauerer Blick auf ihre Rolle in der lokalen Wirtschaft und der modernen Arbeitswelt.

Mehr als nur Essenslieferung: Plattformen als Partner des lokalen Handels

Wenn von Lieferplattformen die Rede ist, denken viele an Essen auf Rädern – kein Wunder, denn allein 2021 nutzten über 42 Millionen Menschen in Deutschland entsprechende Dienste für gastronomische Angebote. Dass Restaurants schon länger von diesen digitalen Vertriebswegen profitieren, ist nicht erst seit der Covid-19-Pandemie bekannt. Für viele Betriebe sind Plattformen längst fester Bestandteil des Geschäftsmodells.

Doch Plattformen sind längst mehr als das. Sie entwickeln sich zunehmend zu Partnern des lokalen Handels. Sie liefern nicht nur Mahlzeiten, sondern auch Drogerieartikel, Geschenke, Blumen oder Apothekenartikel – und unterstützen so kleine und mittlere Einzelhändler dabei, wettbewerbsfähig zu bleiben.

Dabei ist der wirtschaftliche Druck auf lokale Geschäfte hoch. Große Online-Händler dominieren den Markt, und viele stationäre Läden kämpfen um ihre Sichtbarkeit und ihr Überleben – Innenstädte drohen dabei, durch Ladenschließungen ihre Vielfalt zu verlieren und zu veröden. Hier schaffen Plattformen neue Möglichkeiten: Ein Blumenladen, der früher nur Laufkundschaft bedienen konnte, erreicht heute per App neue Kundengruppen in der ganzen Stadt. Die Einstiegshürden sind niedrig, da Händler keine eigene Online-Infrastruktur aufbauen müssen – das spart die für sie so kritische Zeit und Geld.

Was vorher undenkbar war, ist nun einfach umsetzbar: Der Laden von nebenan liefert plötzlich schneller als die großen, internationalen Bestellplattformen – bargeldlos, bequem und direkt nach Hause.

Flexible Arbeitsmodelle für eine vielfältige Gesellschaft

Plattformen verändern nicht nur den Handel, sondern auch die Arbeitswelt. Sie bieten flexible Verdienstmöglichkeiten für Menschen mit unterschiedlichen Lebensrealitäten – etwa Studierende, Eltern mit Betreuungsverpflichtungen oder Personen, die neu in den deutschen Arbeitsmarkt einsteigen.

Diese Flexibilität ist für alle attraktiv, die nicht in klassische „9-to-5“-Strukturen passen. Plattformarbeit ergänzt traditionelle Beschäftigungsformen, eignet sich für Nebenverdienste oder als Übergangslösung und ermöglicht individuelle Arbeitsgestaltung. Sie ist keine Konkurrenz zu festen Anstellungen, sondern ein zusätzliches Angebot für mehr Selbstbestimmung.

Entscheidend ist, dass flexible Arbeitsmodelle fair gestaltet sind. Unabhängig von der gewählten Arbeitsform müssen Beschäftigte Zugang zu fairen Arbeitsbedingungen, angemessener Vergütung und sozialer Absicherung haben. Flexibilität darf nicht auf Kosten von Sicherheit und Rechten gehen. Gleichzeitig muss die freie Wahl des Arbeitsmodells gewährleistet sein: Menschen sollen selbst entscheiden können, ob sie in einem klassischen Angestelltenverhältnis oder flexibel über Plattformen arbeiten möchten – ohne strukturelle Hürden oder regulatorische Benachteiligungen. Eine vielfältige Gesellschaft braucht ebenso vielfältige Arbeitsmodelle, die individuelle Bedürfnisse und soziale Gerechtigkeit in Einklang bringen.

Regulierung: Innovation ermöglichen, Fairness sichern

Die zukünftige Gestaltung des politischen Rahmens für Plattformarbeit wird entscheidend dafür sein, ob digitale Plattformen ihr volles Potenzial entfalten können. Mit der geplanten Umsetzung der EU-Plattformarbeitsrichtlinie steht die Bundesregierung vor der Herausforderung, faire Arbeitsbedingungen zu gewährleisten und gleichzeitig die Innovationskraft von Plattformunternehmen zu erhalten. Der Schlüssel liegt in der Balance: Plattformbeschäftigte sollen geschützt werden, ohne die Flexibilität einzuschränken, die viele von ihnen schätzen. Pauschale Regulierungen, die flexible Arbeitsmodelle erschweren, könnten unbeabsichtigte negative Folgen haben. Gefragt sind differenzierte Lösungen.

Um Missbrauch zu verhindern, ohne flexible Arbeitsformen zu gefährden, braucht es präzise, praxisnahe Kriterien zur Abgrenzung von Scheinselbstständigkeit. Das schafft Rechtssicherheit für alle Beteiligten. Orientierung bieten dabei die sogenannten Yodel-Kriterien des Europäischen Gerichtshofs: Die Möglichkeit, Aufträge weiterzugeben, das Recht, Aufträge abzulehnen, das Fehlen von Nebenbeschäftigungsverboten und volle Arbeitszeitautonomie. Zudem sollten die vertraglichen Absichten von Plattformbetreibern und -tätigen berücksichtigt werden. Freiwillige Sozial- und Weiterbildungsangebote von Plattformen sollten außerdem nicht automatisch als Indiz für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis gewertet werden, da dies sozial verantwortliches Engagement ausbremsen könnte.

Ein weiteres zentrales Thema ist die algorithmische Transparenz. Viele Entscheidungen auf Plattformen – etwa welche Aufträge Kurierfahrer:innen angeboten werden oder wie Händler:innen in Apps sichtbar sind – basieren auf Algorithmen. Nach welchen Kriterien diese Prozesse ablaufen, ist für manche oft unklar. Dagegen gehen wir bei Wolt bereits vor: Wir veröffentlichen jährlich Berichte, die transparent darlegen, wie die Algorithmen funktionieren und welche Faktoren berücksichtigt werden.

Dies schafft Vertrauen bei Kurierfahrer:innen, Händler:innen sowie Kund:innen. Regulierung kann diese Transparenz fördern, sollte aber flexibel bleiben, um Innovationen nicht zu behindern. Statt Doppelregulierungen zu schaffen, sollten neue Vorgaben sinnvoll mit bestehenden Gesetzen wie der Datenschutzgrundverordnung verzahnt werden, um bürokratischen Aufwand zu minimieren. So lässt sich Innovation fördern, Fairness sichern und der Arbeitsmarkt zukunftsfest gestalten.

Plattformen als Motor wirtschaftlicher Entwicklung

Plattformen sind ein wichtiger Teil der Lösung für die wirtschaftlichen Herausforderungen Deutschlands. Sie eröffnen lokalen Händlern neue Märkte, schaffen flexible Arbeitsmodelle und treiben die Digitalisierung voran. Die kommende Bundesregierung hat die Chance, Rahmenbedingungen zu schaffen, die diese Potenziale gezielt fördern und so die Stärken der Plattformökonomie für die gesamte Wirtschaft nutzbar machen.

Bassel Soukar ist Head of Retail bei Wolt Germany, einer Zustellplattform, die 2014 in Finnland gegründet wurde.

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