Waren Sie schon einmal bei einem Coach oder einer Therapeutin? Herzlichen Glückwunsch! Sich mit den eigenen Verhaltensmustern zu beschäftigen, gehört zu den besten Dingen, die man für sich tun kann. Manchmal frage ich mich, ob die deutsche Verwaltungsdigitalisierung nicht auch einen Coach bräuchte – sofern sie ein Subjekt wäre, das dies könnte.
Stellen Sie sich vor, wie das wäre: Die Verwaltungsdigitalisierung säße auf einem gemütlichen Sessel – einem grünen, samtenen – während nebendran ein kleiner, dunkel gebeizter Holztisch mit einer Box Taschentücher steht, bereit, die sich anbahnenden Tränen aufzufangen. Die Verwaltungsdigitalisierung würde schluchzend klagen: „Ich habe so spät angefangen, so viel falsch gemacht. Ich bin eine Enttäuschung für alle.“ Und der Coach? Der würde sicher antworten: „Nein, das bist du nicht. Lass uns die Dinge genauer anschauen.“ Gemeinsam würden sie herausarbeiten, dass zwar vieles schieflief, aber auch vieles möglich ist und war – gerade dann, wenn man die existierenden Stärken nutzt: Fachkompetenz, Technologien, Ideen.
Leider hat die deutsche Verwaltungsdigitalisierung keinen Coach. Stattdessen gibt es eine öffentliche Debatte, die ihr regelmäßig signalisiert: „Du bist wirklich eine allumfassende Versagerin!“ – und alle scheinen es zu glauben. Was, wenn wir nicht nur die Verwaltungsdigitalisierung, sondern auch uns selbst davon lösen würden und stärker darauf schauen, was bereits funktioniert? Nicht, um Fehler zu ignorieren, sondern um Motivation zu schaffen.
Daher möchte ich vorschlagen, dass wir mal eine Reise durch die Bundesrepublik machen, statt nach Estland, Österreich oder Singapur zu fahren. Denn so hilfreich solche Inspirationsreisen sind – bei Reisen durch die Bundesrepublik finde ich Ideen, die ich vom selben System her kopieren kann. Ich brauche weder sprachliche Anpassungen, noch muss ich es an ein föderales System oder deutsche Gesetzgebung anpassen (die Unterschiede bei Anwohnerparkscheinen et cetera lassen wir nun mal außer acht). Eine Reise durch Deutschland lohnt nicht nur, weil Wattenmeer, Moselregion und die sächsische Schweiz auch schön anzusehen sind – sondern auch, weil man durch die Reise erfahren kann, dass wir das hier wirklich können mit der Verwaltungsdigitalisierung. Aber kommen wir erstmal an in Deutschland.
„Hallo, Deutschland“ – ein nutzerzentrierter Einstieg in dieses Land
Welches Bild hat das Ausland eigentlich von Deutschland? Neuerdings ein richtig hübsches und nutzerzentriertes! Denn das Auslandsportal vom Auswärtigen Amt ist nicht nur in Rekordzeit fertiggestellt worden, es hat sogar fristgerecht alle Botschaften angeschlossen, sodass jetzt von überall aus in der Welt ein Visum für Fachkräfte oder ein Antrag auf die Chancenkarte digital gestellt werden kann. Nichts davon mitbekommen? So ist das leider, wenn Projekte reibungslos laufen.
Wir durften uns beim Beirat zur Umsetzung der Digitalstrategie beim BMDV dieses Leuchtturmprojekt aus der Nähe ansehen und da zeigte sich, wie wichtig besonders zwei Dinge sind: zum einen Projekt- und Prozessmanagementkenntnisse, die im Team vorhanden sind und zum anderen Umsetzungsexpert:innen aus den Auslandsvertretungen, die einfach wissen, wie der Hase bei Visa-Verfahren und in den Auslandsvertretungen läuft. Klingt simpel – ist es auch.
Obgleich ich nicht sagen will, dass das Projekt ein Selbstläufer war. Ganz und gar nicht! Was ich aber betonen will: Wir haben unfassbar viel Fachkompetenz in unseren Verwaltungen. Wir müssen sie nutzen und sie mit den Digitalisierungsexpert:innen zusammenbringen. Die Ideen für eine Verbesserung und/oder Transformation eines Prozesses, wie das der Visa-Beantragung sitzt schon in den Köpfen der Mitarbeiter:innen – nutzen wir es und geben wir ihnen auch die entsprechende Arbeitszeit, sie im Digitalisierungsprojekt einzubringen.
Neue Wege? Gehen wir!
Wissen Sie noch? Corona? Und die Energiekostenpauschale für Studierende? Was war das für ein öffentliches Drama – vornehmlich die politische Diskussion in der ziemlich viel ausgehandelt werden musste. Das hätte besser laufen können, aber vergessen wir nicht, dass wir in einer Situation der Unsicherheit waren. Als das dann aber geklärt war, konnte es losgehen mit der Digitalisierung der Energiekostenpauschale. Knappe eineinhalb Monate nach dem Auftrag vom Bundesbildungsministerium an das Land Sachsen-Anhalt, das für Bildungsthemen im Rahmen der OZG-Umsetzung zuständig ist, war das Portal auch schon online. Und ja, die Server machten erstmal nicht mit. Hätte besser laufen müssen – aber dann! Na, auch nicht so viel über das Gute der Pauschale gehört? Schade, dass wir so wenig drüber reden, oder?
Als eingeschriebene Studentin durfte ich die Pauschale beantragen. Ich habe es mit meinem Elsterzertifikat getan. Klick, klick, klick – alle meine Daten waren da, noch meine IBAN-Nummer und fertig war der Antrag. Abgeschickt, Eingangsbestätigung per Mail und nur wenige Minuten später eine Bewilligung im Postfach. „Was ist da los?“, fragte ich mich und war begeistert von dieser Verwaltungserfahrung. Zwei Tage später hatte ich das Geld auf dem Konto. Warum wir das nicht direkt für das Klimageld übernommen haben? Das ist wohl eine andere Geschichte.
Probleme? Ändern wir!
Reisen wir aber von Sachsen-Anhalt weiter nach Cottbus. Dort sitzt nämlich die Tierseuchenkasse Brandenburg. Wenn man sich mit Verwaltungsdigitalisierung beschäftigt, dann erfährt man plötzlich von Dingen, von denen man nie im Leben dachte, dass sie existieren. So ging es mir mit dieser Kasse. Und wenn man sich mit Verwaltungsdigitalisierung beschäftigt, dann sprechen Freund:innen einen abends in der Bar auch gerne auf ihre Erfahrungen mit der Verwaltung an – gerne auch mal die guten. Und dazu zählt diese Tierseuchenkasse. Die Story in Kürze: Früher hat ein Pferdestall alle dort ansässigen Pferde gesamt gemeldet, dann gabs eine Änderung, dass jede:r Besitzer:in das selber machen muss – Chaos, Papierberge, Verwirrung. Also Prozess digitalisiert und nun: glückliche Pferdebesitzer:innen. Alles easy, alles smooth – ich hoffe auch für die Mitarbeiter:innen am anderen Ende des Prozesses. Aber nehmen Sie sich das doch mal zum Vorbild: von guten Erfahrungen mit der Verwaltung erzählen. Ich wette, es gibt sie!
Führungskräfte! Reden wir!
Ich schreibe diese Reiseempfehlung ja auch, weil ich es leider zu häufig erlebe, dass Spitzenpolitiker:innen öffentlich sagen, dass wir mal KI in der Verwaltung bräuchten. „Was man da alles bei der Bundesagentur für Arbeit und der Rente machen könnte!“, wurde wirklich so auf einem Panel, das ich moderierte, gesagt. Natürlich gab ich sofort den Hinweis, dass man sich wirklich dringend mal die beiden Verwaltungen von innen anschauen müsse, denn bei beiden passiert in diesem Bereich schon sehr viel. Wir sind auf unserer Reise jetzt aber erstmal in Nürnberg bei der Bundesagentur für Arbeit – die, weil sie ja ein bisschen Ahnung vom Thema Arbeit hat – auch so stark auf Automatisierung und KI setzt, weil sie weiß, dass der jetzt schon existierende Fachkräftemangel nur noch stärker werden wird. Es ist hinlänglich bekannt, dass der demografische Wandel die Verwaltung mit voller Wucht treffen wird und KI und Automatisierung ganz viel auffangen müssen.
Und so großartig die Anwendungen für interne Abläufe, Wissensmanagement und Kundeberatung sind, so möchte ich bei diesem Beispiel doch auf einen anderen Punkt hinaus: die Rolle der Behördenleiterin Andrea Nahles. Es mag trivial klingen, was ich jetzt sage, aber unter anderem meine Arbeit im Beirat zur Digitalstrategie Deutschlands zeigte mir, dass es das nicht ist: Es ist von unfassbar wichtiger Bedeutung, dass sich oberste Führungskräfte mit dem Thema KI befassen, das Thema treiben und nach außen und innen klar machen, wie KI eingesetzt werden soll. Das nimmt nämlich viele Ängste, die gerade bei neuen Technologien in Deutschland sowohl in der Verwaltung selbst als auch in der Gesellschaft allgemein, bekanntlich herrschen. Also: nicht nur Prozesse und Software abschauen, sondern auch, mit welchen Themen sich andere Führungskräfte befassen und wie sie darüber kommunizieren kopieren!
Digitale Verwaltung erleben: Mit Schaf oder neuer Wohnung
Mit digitalen Verwaltungsdienstleistungen ist es ja so eine Sache. Die Erfahrung mit der Tierseuchenkasse werde ich wahrscheinlich nie machen, es sei denn, ich lege mir doch mal ein Schaf zu. Ein Visum für Deutschland werde ich auch nie beantragen müssen. Dass ich nochmal in der Uni eingeschrieben war, war Zufall und von dem KI-Einsatz der Bundesagentur erfuhr ich erstmals durch Interviews von Andrea Nahles. Auch umziehen werde ich dank des Berliner Wohnungsmarktes erstmal nicht – aber würde ich das tun, ich würde was erleben!
So las ich gerade erst von einem guten Bekannten, dass ein Familienmitglied sich digital ummelden konnte – inklusive postalisch zugeschicktem Sticker mit neuer Adresse zum selbst überkleben für den Personalausweis. Ja sapperlot, dachte ich da, in welche futuristische Stadt ist denn da jemand gezogen? Um das Angebot zu verifizieren – man glaubt es ja sonst nicht – stieß ich auf eine lange Liste an deutschen Kommunen, bei denen das auch möglich ist. Proudly provided by Hansestadt Hamburg. „Einer für alle“ funktioniert also – nahezu deutschlandweit und selbst in Berlin.
Look at the bright side of Verwaltungsdigitalisierung
Nun, da ich mir weder ein Schaf zulegen werde noch plane, eine neue Wohnung zu suchen, wird es bei mir erstmal seltener passieren, dass ich persönlich die Verwaltung digital erlebe. Aber mir hilft es, dass andere von ihren Erfahrungen erzählen. Denn das bestätigt mich darin, dass – auch wenn nicht alles perfekt ist – aber wir das gesamte Rüstzeug für den Weg zu einer digitalen Verwaltung haben.
Ich weiß, ich habe echt vielen unrecht damit getan, dass ich sie hier nicht erwähnt habe. Sollte dieses Gefühl bei meinen Leser:innen aufkommen, dass ich diese oder jene super digitalisierte Verwaltungsleistung vergessen habe, habe ich genau das erreicht, was ich wollte: Die Erinnerung daran, wie viel schon gut funktioniert. Sich das anzuschauen, heißt keineswegs zu ignorieren, was alles noch nicht geht. Aber es bestärkt einen und eine ganze Gesellschaft, dass wir das, was noch nicht geht, auch noch funktionstüchtig bekommen können. Und es tut uns allen gut, wenn wir ein bisschen mehr darauf schauen, zu was wir bisher schon fähig waren und was wir mit diesen Fähigkeiten noch erreichen werden. Zumindest würde der Coach der Verwaltungsdigitalisierung uns das raten. Und nun freue ich mich auf ganz viele öffentliche Hinweise auf bereits hervorragend laufende Lösungen der Verwaltungsdigitalisierung!
Ann Cathrin Riedel, Geschäftsführerin von Next e.V., ist Publizistin und Expertin für Digitalpolitik, Verwaltungstransformation und Demokratie. Ihre Expertise wird regelmäßig in politischen Gremien wie dem Deutschen Bundestag nachgefragt. Für ihr Engagement wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem als „Woman in eGovernment/Leadership 2024“.