In dieser Kolumne berichte ich für gewöhnlich aus dem Arbeitsalltag meines öffentlichen Innovationslabors. Nun ist das mit dem Alltag in Zeiten des gegenwärtigen weltpolitischen Aufruhrs so eine Sache. Vielleicht geht es Ihnen da ähnlich: In den vergangenen Wochen drehte sich der Großteil meiner beruflichen Gespräche nicht um die Digitalisierung einer Stadtverwaltung, sondern plötzlich um sehr viel größere, gewichtigere Fragen: Was passiert da eigentlich gerade den USA? Was bedeutet der autoritäre Umbau der größten westlichen Demokratie auch für unser eigenes politisches Selbstverständnis? Und welche Konsequenzen müssen wir daraus für unsere Arbeit im Öffentlichen Sektor ziehen?
Für Menschen, die sich professionell mit der Transformation der öffentlichen Verwaltung beschäftigen, sind die Entwicklungen in den USA auf einer zusätzlichen Ebene verstörend. Viele von uns fordern schließlich seit vielen Jahren, dass der Staat moderner und effizienter werden muss, und wir Digitalisierung und Bürokratieabbau entschlossener angehen sollten. Nun zu sehen, wie Elon Musk unter eben diesen Vorzeichen die Kettensäge an Behörden anlegt, ist bitter. Unter anderem hat Musk – neben einer kaum mehr zu überblickenden Anzahl anderer verheerender Maßnahmen – in wenigen Wochen den US Digital Service und die renommierte Innovationseinheit 18F erledigt und damit jahrelange Aufbauarbeit im Feld der Verwaltungsinnovation zunichtegemacht.
US-Abhängigkeit droht bald zum Problem zu werden
Die Folgen dieses brutalen Umbauprogramms, das unweigerlich an das Silicon-Valley-Motto „move fast and break things“ erinnert, sind noch gar nicht abzusehen. Aber dass es nicht als Inspiration oder gar Vorbild, sondern bestenfalls als Mahnung dienen kann, liegt auf der Hand. Vielleicht wird so wenigstens einmal deutlich, wie viel bei der Transformation der Verwaltung auf dem Spiel steht: Wenn wir es nicht schaffen, kommt irgendwann ein Musk.
Noch viel beunruhigender als den Kahlschlag in der US-Verwaltung dürften die meisten Menschen aber gerade die geopolitischen Erschütterungen empfinden, die sich aus der weitgehenden Aufkündigung der transatlantischen Freundschaft ergeben. Auch sie haben eine digitale Dimension, über die gerade noch zu wenig gesprochen wird. Denn allen Beteuerungen für mehr digitale Souveränität zum Trotz, sind wir in Deutschland nach wie vor in hohem Maße von US-Technologien abhängig. Und man muss leider davon ausgehen, dass uns diese Abhängigkeit schon bald große Probleme bereiten könnte.
So überweist die Bundesverwaltung allein dem Datenbankanbieter Oracle Milliarden für Datenbank- und Cloud-Betrieb. Mehr als 200 Millionen Euro kommen jährlich für Microsoft-Lizenzen hinzu – Spitzenreiter ist hier ausgerechnet das Verteidigungsministerium. Aber die Abhängigkeit besteht sektorübergreifend. Ob Finanzsystem, Transportwesen, Kommunikation oder eben Verwaltung: Ohne Software aus den USA läuft in Deutschland nach wie vor wenig, obwohl es in vielen Bereichen längst Open-Source-Alternativen gäbe.
Im Rest der EU sieht es nicht viel besser aus. Francesca Bria, eine der wenigen echten Vordenkerinnen im Bereich europäischer Innovations- und Digitalpolitik, hat deshalb schon im vergangenen Jahr für die Bertelsmann Stiftung einen detaillierten Plan entwickelt, wie ein souveräner „Euro Stack“ entwickelt werden könnte, der Europa in Sachen Digitalisierung auf eigene Füße stellt (Tagesspiegel Background berichtete). Ihr Fazit: Digitale Souveränität für Europa ist möglich. Aber sie benötigt große Investitionen, eine effektive Koordination und vor allem endlich ein politisches Bewusstsein dafür, dass digitale Infrastruktur längst eine unentbehrliche, alle Teilbereiche durchziehende Grundlage für unsere Gesellschaften geworden ist.
Mehr offene Technologien nutzen
Vielleicht bietet uns die aktuelle Krise eine Chance, das Thema der digitalen Souveränität jetzt endlich mit der gebotenen Dringlichkeit anzugehen. Überraschenderweise könnte gerade Deutschland hier eine Vorreiterrolle einnehmen. Mit Organisationen wie dem Zentrum für digitale Souveränität (Zendis), der Sovereign Tech Agency oder der Bundesagentur für Sprunginnovationen (Sprind) wurden hier bereits institutionelle Grundlagen geschaffen, die auch international als wegweisend wahrgenommen werden. Hinzu kommen stetig wachsende Praxiserfahrungen mit dem Einsatz eigener Open Source-Software in Ländern und Kommunen.
„Make things open, it makes things better“ – dieser Grundsatz des britischen Digital Service ist auch für unsere Arbeit im City Lab Berlin immer handlungsleitend geblieben. Nicht nur veröffentlichen wir eigenen Code grundsätzlich unter freier Lizenz, wir nutzen umgekehrt auch wo wir können offene Technologien, um der Verwaltung mehr Unabhängigkeit zu ermöglichen. So haben wir in den letzten Monaten gemeinsam mit der Berliner Senatskanzlei intensive Nutzertests unter anderem mit der Office-Alternative Open Desk oder der Dateninfrastruktur Civitas/Core durchgeführt. Beide Produkte könnten schon heute maßgebliche Bestandteile einer souveränen IT-Infrastruktur sein, die auch dann weiterläuft, wenn über dem Atlantik dunkle Wolken aufziehen.
Der promovierte Kultur- und Medienwissenschaftler Benjamin Seibel leitet das City Lab Berlin. Das 2019 gegründete Stadtlabor wird von der Berliner Senatskanzlei finanziert und der Technologiestiftung Berlin betrieben. Im City Lab arbeiten Teams aus der öffentlichen Verwaltung gemeinsam mit der Stadtgesellschaft und der Forschung an der Stadt der Zukunft.
Zuletzt von Seibel in dieser Rubrik erschienen: „Die verlorene Kunst der Vereinfachung“