Verkehr-Smart-Mobility icon

Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Bei nächster Gelegenheit: Bitte wenden

Stefan Gelbhaar, Grünen-Fraktionssprecher für städtische Mobilität und Radverkehr
Stefan Gelbhaar, Grünen-Fraktionssprecher für städtische Mobilität und Radverkehr Foto: Foto: Marco Fechner

Der Entwurf für den Bundeshaushalt zeigt, dass Verkehrsminister Andreas Scheuer keine Verkehrswende will: Der Großteil seines Budgets fließt in den Straßenbau. Die geringen Investitionen für Radwege sollen für 2020 sogar zurückgehen, schreibt Stefan Gelbhaar, Grünen-Fraktionssprecher für Mobilität und Radverkehr.

von Stefan Gelbhaar

veröffentlicht am 11.09.2019

aktualisiert am 12.09.2019

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen

Am kommenden Wochenende werden zehntausende Menschen in Frankfurt am Main während der Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) für eine Verkehrswende demonstrieren. Sie wollen eine Veränderung, weg von den Lawinen von Millionen immer größerer Autos – und deren Folgen. Sie fordern Investitionen und bessere Bedingungen für Bus und Bahn, Fahrrad und Fußverkehr und wollen bessere Lebensqualität. Die Schäden, die der Autoverkehr in Deutschland jährlich verursacht, werden derzeit auf 141 Milliarden Euro beziffert. Es muss etwas passieren. Im Verkehrsministerium herrscht jedoch Stillstand.

Diese Woche wird vier ICE-Stunden (sechs Autostunden) von Frankfurt entfernt, in Berlin, genauer im Bundestag, der Entwurf des Bundeshaushalts eingebracht. Egal welche Versprechungen Ministerinnen und Minister während des Jahres geben: die Wahrheit steht im Haushalt. Wofür Geld ausgegeben wird und wofür eben auch nicht, entscheidet letztendlich, welche Weichen wirklich gestellt werden.

Aus dem Haushalt geht – entgegen aller PR des Verkehrsministers Andreas Scheuer – hervor: Er will keine Verkehrswende. Er tut exakt nichts dafür. Scheuer verfügt über mehr investive Mittel als alle anderen Kabinettsmitglieder. Die aber fließen zu großen Teilen in den Bau von Autobahnen und Bundesstraßen, Jahr für Jahr. Die ohnehin wenigen Gelder für Radwege (weniger als ein Prozent der Investitionen in Verkehrswege) sollen für das Jahr 2020 sogar zurückgehen. In den Niederlanden werden jährlich geschätzt 500 bis 600 Millionen Euro für den Radverkehr ausgegeben.

Scheuers StVO-Novelle ist eine Nebelkerze

Um auf eine ähnliche pro-Kopf-Quote für Deutschland zu kommen, müssten Bund, Länder und Kommunen gemeinsam jährlich 2,5 bis 3 Milliarden Euro für den Radverkehr ausgeben. Zur Orientierung: der Bund investiert aktuell 130 Millionen Euro, also etwas über einem Zwanzigstel dieser Summe, in den Radverkehr. Der Betrag muss sich verzehnfachen. Wir Grüne fordern vom Bund über eine Milliarde für den Radverkehr.

Ebenfalls die Wahrheit sprechen Gesetzentwürfe und Verordnungen, die aus dem Ministerium kommen. Und auch hier wird klar: Während Scheuer viel Lärm um Verbesserungen für den Radverkehr macht, ist seine tatsächliche Arbeitsbilanz ist verheerend. Das wird zum Beispiel an der angeblich fahrradfreundlichen Überarbeitung der Straßenverkehrsordnung deutlich. Sie geht keinen Millimeter über das absolut Notwendige hinaus. Sie ist voll von kosmetischen Veränderungen in Formulierungen. Diese klingen in Videos gut, bewirken faktisch aber kaum Verbesserung. Manches ist gar eine Verschlechterung für den Bus- und Radverkehr, etwa der absurde Vorschlag, Autos mit einer Besetzung ab drei Personen auf Busstreifen zuzulassen. Der Vorschlag wirkt wie ein billiges Ablenkungsmanöver vom Rest des schlechten Entwurfs der Novelle.

Hier wären zum Beispiel Scheuers „neue“ Regelungen zu Fahrradzonen, Nebeneinanderfahren oder zum Sicherheitsabstand zu nennen. So lange es für Kommunen nicht leichter wird, Fahrradstraßen anzuordnen, hilft es auch nichts, wenn sie Fahrradzonen ebenso schwer anordnen können. Nebeneinanderfahren soll künftig erlaubt sein, nur dann nicht, wenn es Autos stört. Bisher ist es verboten nur dann nicht, wenn es Autos nicht stört. Der Sicherheitsabstand von 1,5 Metern innerorts ist gerichtlich ohnehin bereits festgelegt.

Raumverteilung neu diskutieren

Die Einführung von Verkehrssicherheitszonen, in die LKW ohne Abbiegeassistent nicht einfahren dürfen, fehlt – trotz immer mehr schwerer Unfälle. Die Möglichkeit der Einführung von generell Tempo 30 innerorts fehlt – entgegen sämtlicher Empfehlung von Expert*innen. Erleichterungen zur Einrichtung von Fahrradstraßen, von Querungsanlagen oder zur Öffnung von Einbahnstraßen fehlen ebenso. Schließlich ist die absolut überfällige grundlegende Überarbeitung der Straßenverkehrsgesetze nicht in Sicht. Es braucht keine Mini-Korrekturen am Status Quo. Es braucht ein Bundesmobilitätsgesetz, das alle Verkehrsarten gleichrangig behandelt und sichere, umwelt-, klima- und gesundheitsfreundliche Verkehrsarten besonders fördert.

Neben mehr Geld und besseren Gesetzen müssen weitere grundlegende Fragen diskutiert und neu beantwortet werden, etwa Fragen zu Raumverteilung und Verkehrssicherheit. Der Platz in unseren Städten wird immer knapper. Wir können es uns gar nicht mehr leisten, dass weiterhin grundsätzlich fast jede freie Fläche zum kostenlosen oder extrem günstigen Parken zur Verfügung steht. Wer öffentlichen Raum in Anspruch nimmt muss zahlen und wenn dieser knapp ist, wird es eben teuer.

Gegenüber dem Jahr 2010 sank die Zahl der Verkehrstoten 2018 um 10,2 Prozent. Die Anzahl der verunglückten Radfahrenden stieg im selben Zeitraum jedoch um 16,8 Prozent an. Die Reaktion von Scheuer: eine Helmkampagne, die alle für dumm verkauft und gar behauptet Leben zu retten. Das SUV-Elterntaxi mutiert zum sichersten Ort für die eigenen Kinder und gefährdet gleichzeitig andere. Tatsächlich kann es nicht darum gehen, dass die schwächsten Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer, Radfahrende und zu Fuß Gehende, sich selbst immer besser schützen.

Die Verkehrswende kommt „von unten”

Die Verantwortung, für bessere Sicherheit zu sorgen, liegt bei der Gruppe, die die Unsicherheit verursacht. Autos und LKWs müssen standardmäßig mit Sicherheitssystemen ausgestattet sein, die deren Umfeld schützen, nicht nur deren Insassinnen und Insassen. Fahrerinnen und Fahrer müssen in jeder Situation stets besondere Rücksicht auf ungeschützte Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer nehmen. Im Zweifel haben diese immer Vorfahrt – das muss in die Köpfe. Wer diese Grundregel nicht beachtet, ist nicht dafür geeignet, eine Fahrerlaubnis zu besitzen.

Während der Verkehrsminister wie ein Geisterfahrer die Verkehrswende ausbremst, diskutiert die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/ Die Grünen auf ihrer Fahrradkonferenz am 13./14.9. im Bundestag mit über 40 Expertinnen und Experten sowie mehreren hundert Gästen wie es besser laufen kann. Wir werden nach vorne blicken, Ideen und Visionen austauschen, gute Praxisbeispiele teilen und uns vernetzen. Alle Konferenzteilnehmenden werden hoffentlich mit vielen guten Ideen und neuen Bekanntschaften wieder nach Hause gehen und dann vor Ort die Verkehrswende weiter vorantreiben. Bis auf Weiteres kommt die Verkehrswende “von unten”. 

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen