Am kommenden Wochenende werden zehntausende Menschen in
Frankfurt am Main während der Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) für
eine Verkehrswende demonstrieren. Sie wollen eine Veränderung, weg von den Lawinen
von Millionen immer größerer Autos – und deren Folgen. Sie fordern
Investitionen und bessere Bedingungen für Bus und Bahn, Fahrrad und Fußverkehr
und wollen bessere Lebensqualität. Die Schäden, die der Autoverkehr in
Deutschland jährlich verursacht, werden derzeit auf 141 Milliarden Euro beziffert.
Es muss etwas passieren. Im Verkehrsministerium herrscht jedoch Stillstand.
Diese Woche wird vier ICE-Stunden (sechs Autostunden) von
Frankfurt entfernt, in Berlin, genauer im Bundestag, der Entwurf des Bundeshaushalts
eingebracht. Egal welche Versprechungen Ministerinnen und Minister während des
Jahres geben: die Wahrheit steht im Haushalt. Wofür Geld ausgegeben wird und
wofür eben auch nicht, entscheidet letztendlich, welche Weichen wirklich
gestellt werden.
Aus dem Haushalt geht – entgegen aller PR des Verkehrsministers Andreas Scheuer – hervor: Er will keine Verkehrswende. Er tut exakt nichts dafür. Scheuer verfügt über mehr investive Mittel als alle anderen Kabinettsmitglieder. Die aber fließen zu großen Teilen in den Bau von Autobahnen und Bundesstraßen, Jahr für Jahr. Die ohnehin wenigen Gelder für Radwege (weniger als ein Prozent der Investitionen in Verkehrswege) sollen für das Jahr 2020 sogar zurückgehen. In den Niederlanden werden jährlich geschätzt 500 bis 600 Millionen Euro für den Radverkehr ausgegeben.
Scheuers StVO-Novelle ist eine Nebelkerze
Um auf eine ähnliche
pro-Kopf-Quote für Deutschland zu kommen, müssten Bund, Länder und Kommunen
gemeinsam jährlich 2,5 bis 3 Milliarden Euro für den Radverkehr ausgeben. Zur
Orientierung: der Bund investiert aktuell 130 Millionen Euro, also etwas über
einem Zwanzigstel dieser Summe, in den Radverkehr. Der Betrag muss sich
verzehnfachen. Wir Grüne fordern vom Bund über eine Milliarde für den
Radverkehr.
Ebenfalls die Wahrheit sprechen Gesetzentwürfe und
Verordnungen, die aus dem Ministerium kommen. Und auch hier wird klar: Während
Scheuer viel Lärm um Verbesserungen für den Radverkehr macht, ist seine
tatsächliche Arbeitsbilanz ist verheerend. Das wird zum Beispiel an der
angeblich fahrradfreundlichen Überarbeitung der Straßenverkehrsordnung
deutlich. Sie geht keinen Millimeter über das absolut Notwendige hinaus. Sie
ist voll von kosmetischen Veränderungen in Formulierungen. Diese klingen in
Videos gut, bewirken faktisch aber kaum Verbesserung. Manches ist gar eine
Verschlechterung für den Bus- und Radverkehr, etwa der absurde Vorschlag, Autos
mit einer Besetzung ab drei Personen auf Busstreifen zuzulassen. Der Vorschlag
wirkt wie ein billiges Ablenkungsmanöver vom Rest des schlechten Entwurfs der
Novelle.
Hier wären zum Beispiel Scheuers „neue“ Regelungen zu Fahrradzonen, Nebeneinanderfahren oder zum Sicherheitsabstand zu nennen. So lange es für Kommunen nicht leichter wird, Fahrradstraßen anzuordnen, hilft es auch nichts, wenn sie Fahrradzonen ebenso schwer anordnen können. Nebeneinanderfahren soll künftig erlaubt sein, nur dann nicht, wenn es Autos stört. Bisher ist es verboten nur dann nicht, wenn es Autos nicht stört. Der Sicherheitsabstand von 1,5 Metern innerorts ist gerichtlich ohnehin bereits festgelegt.
Raumverteilung neu diskutieren
Die Einführung von Verkehrssicherheitszonen, in die LKW
ohne Abbiegeassistent nicht einfahren dürfen, fehlt – trotz immer mehr schwerer
Unfälle. Die Möglichkeit der Einführung von generell Tempo 30 innerorts fehlt –
entgegen sämtlicher Empfehlung von Expert*innen. Erleichterungen zur
Einrichtung von Fahrradstraßen, von Querungsanlagen oder zur Öffnung von
Einbahnstraßen fehlen ebenso. Schließlich ist die absolut überfällige
grundlegende Überarbeitung der Straßenverkehrsgesetze nicht in Sicht. Es
braucht keine Mini-Korrekturen am Status Quo. Es braucht ein
Bundesmobilitätsgesetz, das alle Verkehrsarten gleichrangig behandelt und
sichere, umwelt-, klima- und gesundheitsfreundliche Verkehrsarten besonders
fördert.
Neben mehr Geld und besseren Gesetzen müssen weitere
grundlegende Fragen diskutiert und neu beantwortet werden, etwa Fragen zu
Raumverteilung und Verkehrssicherheit. Der Platz in unseren Städten wird immer
knapper. Wir können es uns gar nicht mehr leisten, dass weiterhin grundsätzlich
fast jede freie Fläche zum kostenlosen oder extrem günstigen Parken zur
Verfügung steht. Wer öffentlichen Raum in Anspruch nimmt muss zahlen und wenn
dieser knapp ist, wird es eben teuer.
Gegenüber dem Jahr 2010 sank die Zahl der Verkehrstoten 2018 um 10,2 Prozent. Die Anzahl der verunglückten Radfahrenden stieg im selben Zeitraum jedoch um 16,8 Prozent an. Die Reaktion von Scheuer: eine Helmkampagne, die alle für dumm verkauft und gar behauptet Leben zu retten. Das SUV-Elterntaxi mutiert zum sichersten Ort für die eigenen Kinder und gefährdet gleichzeitig andere. Tatsächlich kann es nicht darum gehen, dass die schwächsten Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer, Radfahrende und zu Fuß Gehende, sich selbst immer besser schützen.
Die Verkehrswende kommt „von unten”
Die Verantwortung, für bessere
Sicherheit zu sorgen, liegt bei der Gruppe, die die Unsicherheit verursacht.
Autos und LKWs müssen standardmäßig mit Sicherheitssystemen ausgestattet sein,
die deren Umfeld schützen, nicht nur deren Insassinnen und Insassen.
Fahrerinnen und Fahrer müssen in jeder Situation stets besondere Rücksicht auf
ungeschützte Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer nehmen. Im Zweifel
haben diese immer Vorfahrt – das muss in die Köpfe. Wer diese Grundregel nicht
beachtet, ist nicht dafür geeignet, eine Fahrerlaubnis zu besitzen.
Während der Verkehrsminister wie ein Geisterfahrer die
Verkehrswende ausbremst, diskutiert die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/ Die
Grünen auf ihrer Fahrradkonferenz am 13./14.9. im Bundestag mit über 40
Expertinnen und Experten sowie mehreren hundert Gästen wie es besser laufen
kann. Wir werden nach vorne blicken, Ideen und Visionen austauschen, gute Praxisbeispiele
teilen und uns vernetzen. Alle Konferenzteilnehmenden werden hoffentlich mit
vielen guten Ideen und neuen Bekanntschaften wieder nach Hause gehen und dann
vor Ort die Verkehrswende weiter vorantreiben. Bis auf Weiteres kommt die
Verkehrswende “von unten”.