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Standpunkte Crashgefahr: Warum KI im Auto noch lange nicht das Lenkrad übernehmen wird

Thomas Köhler, Geschäftsführer der Technologieberatung CE21 und Research Professor am Center for International Innovation der Hankou University
Thomas Köhler, Geschäftsführer der Technologieberatung CE21 und Research Professor am Center for International Innovation der Hankou University Foto: PR

Trotz Milliardeninvestitionen von Herstellern und Investoren: Das autonome Fahren ist noch lange nicht ausgereift. Statt auf schnelle Technologiesprünge zu hoffen, müssen wir einsehen: Der Weg dorthin wird iterativ sein – und noch Jahre brauchen.

von Thomas R. Köhler

veröffentlicht am 09.06.2023

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Das selbstfahrende Auto ist eine Geschichte nicht eingelöster Versprechen: An großspurigen Ankündigungen hat es dabei nie gefehlt, besonders nicht beim Elektroautopionier Tesla, der gerade durch ein Datenleck – das Bekanntwerden der sogenannten „Tesla Files“ – in die Schlagzeilen geraten ist. Eine vierstellige Zahl von Unfällen soll demnach mit dem sogenannten Tesla-„Autopilot“ in Verbindung stehen.  

Dabei erklärte Tesla-Chef Elon Musk bereits 2016 öffentlich, das autonome Fahren sei „im Wesentlichen ein gelöstes Problem“. 2019 versprach er, dass wir schon im Jahr darauf „ganz bestimmt eine Million Robo-Taxis haben werden“. Kurz darauf sollten dann auch Autos ganz ohne Lenkrad und Pedale auf dem Markt sein. Geblieben ist von den vollmundigen Versprechungen wenig. Der serienmäßige Autopilot bietet kaum mehr als Abstandstempomat und Spurhalteassistent, nur wer 7500 Euro mehr investiert, erhält „volles Potential für autonomes Fahren“ (so steht das auf der Bestellseite) – aber damit nicht viel mehr als ein Versprechen für eine Zukunft, die möglicherweise niemals kommen wird

Denn die Basis für Teslas heutige und zukünftige Selbstfahrfunktionen sind lediglich preisgünstige Kameras und natürlich jede Menge Rechnerleistung. Andere Sensoren wie Radar und das immer noch relativ teure Lidar, die von etablierten Herstellern als Basis für selbstfahrende Fahrzeuge angesehen werden, sind schlicht nicht an Bord. Die Krux daran: Selbst die acht Kameras eines aktuellen Teslas sind schnell überfordert, wenn es um schlechte Sichtverhältnisse geht. Nebel, Regen oder gar Schneefall – in weiten Teilen der Welt an der Tagesordnung – werden zum Problem. Aber auch stark wechselnde Lichtverhältnisse bei strahlendem Sonnenschein – etwa bei der Einfahrt in einen Tunnel – können ein solches System verwirren. Die Folge sind möglicherweise die in den Tesla-Files genannten häufigen unmotivierten Bremsungen samt dadurch ausgelöster Unfälle. 

Trotz Milliardeninvestitionen: Bisherige Ergebnisse sind dürftig

Andere Autohersteller und Zulieferer setzen daher auf eine Kombination aus unterschiedlichen Sensoren. Autozulieferer Webasto integriert etwa 25 (!) Sensoren in einem im Sommer 2022 vorgestellten Dachmodul, das Autohersteller für ihre eigenen Fahrzeuge kaufen und integrieren können: Vier Radar-, vier Lidar-Sensoren und 16 Kameras verschiedener Typen von Bosch sind in diesem „Roof Sensor Module (RSM)“ verbaut. Integriert sind zudem Funktionen zur Reinigung, Enteisung und Beschlagsentfernung sowie Sensorkühlung, um allen denkbaren Witterungseinflüssen zu trotzen.

Die Radarsensoren dienen der Erfassung von Entfernungen, Geschwindigkeiten und Konturen, vor allem auch bei schlechter Witterung. Die Lidar-Sensoren wiederum liefern ein dreidimensionales Bild der Umgebung und von Objekten, erkennen Bewegungen und messen ebenfalls Geschwindigkeiten. Die Kameras dienen zur Erkennung von Objekten, Markierungen sowie Schildern und Ampeln.

Doch selbst mit derartigem Aufwand sind die Ergebnisse dürftig. In Deutschland kann gerade mal die Mercedes S Klasse und der Mercedes EQS unter bestimmten Bedingungen eigenständig fahren, aber das ausschließlich auf Autobahnen und nur bis 60 km/h, nur bei Tageslicht, nicht in Tunneln sowie Baustellen und ebenfalls nur bei Temperaturen über drei Grad Celsius. Für diesen Komfortgewinn sind dann – je nach Modell – zwischen 5950 und 8842 Euro Aufpreis fällig. Ziemlich viel Geld für ziemlich wenig Nutzwert, denn lässt man die Hand am Lenkrad, kann man mit einem adaptiven Tempomat, der bei vielen Fahrzeugen inzwischen serienmäßig oder für wenige hundert Euro Aufpreis zu haben ist, fast den gleichen Komfortgewinn haben. 

Auch Googles fahrerloses Auto – nun unter dem Namen Waymo am Start – kämpft trotz Milliardeninvestitionen, mehr als zehn Jahren Entwicklung und mehr als 32 Millionen Testkilometern (Herstellerangabe) immer noch mit den Widrigkeiten der Realität und bietet einen echten fahrerlosen Service bisher nur in einigen US-Regionen (San Francisco, Phoenix) zu definierten Tageszeiten an. 

Noch schlechter erging es einigen Neugründungen. Rund 3,6 Milliarden US-Dollar Investorengelder – vor allen Dingen von Ford und Volkswagen – flossen etwa in das 2016 gegründete Unternehmen Argo AI. Dies hinderte die Investoren jedoch nicht daran, den Stecker zu ziehen. Der Frust sitzt tief, denn die vollmundigen Ankündigungen ließen sich auch dort nicht materialisieren. 

Nach einer Untersuchung der Unternehmensberater von McKinsey sollen alleine zwischen 2010 und 2020 rund 100 Milliarden US-Dollar in die Entwicklung von autonomem Fahren geflossen sein. Die Erfolge bislang sind überschaubar. Zwar ist es relativ einfach, 99 Prozent aller Fahrsituationen zu automatisieren, das können alle gängigen Anbieter heute technisch längst leisten. Selbst Open-Source-Software, die wenig mehr als einen Download braucht und auf einem modifizierten Smartphone läuft, das über eine Anschlussbox an die Fahrzeugelektronik angeklemmt wird – wie von Comma.AI erhältlich – kann dies heute schon. Auch die Behauptung, dass eine Künstliche Intelligenz heute bereits besser fährt als der „Durchschnittsmensch“ und weniger Unfälle verursacht, mag nicht ganz von der Hand zu weisen sein.

Künstliche Intelligenz ist überfordert

Doch viele Situationen, in denen ein Mensch intuitiv richtig entscheidet, überfordern die Künstliche Intelligenz der aktuellen Generation selbstfahrender Fahrzeuge. Ein Lieferwagen, der verbotswidrig in der zweiten Reihe steht und an dem man nur vorbeikommt, indem man über einen geschlossenen Strich fährt, ein einzelnes vergessenes Baustellentemposchild auf der ansonsten freien Autobahn, betrunkene Fußgänger in der Innenstadt, die erratisch über die Fahrbahn laufen, extrem dichter Verkehr, bei dem ohne eine informelle Verständigung der Fahrer ein Einfädeln auf eine Hauptstraße nicht möglich ist, so dichter Schneefall, dass die Fahrbahnmarkierungen nicht zu erkennen sind – in all diesen und vielen anderen Szenarien würde ein Mensch ganz intuitiv und vermutlich richtig entscheiden, während das autonome Fahrzeug im Zweifel schlicht stehen bleibt und seine Passagiere damit zu Strandgut am Straßenrand degradiert. 

Das bittere Fazit: Autonomes Fahren funktioniert heute – und ohne Lenkrad und Pedal möglicherweise noch Jahrzehnte lang – nur in eng abgegrenzten Szenarien. Ein Lkw auf der Langstrecke zwischen Autobahnauffahrt und Autobahnabfahrt ist etwa ein technisch längst gelöstes Problem, und bei Fahrermangel und den hohen Kosten für die notwendigen Pausen menschlicher Fahrer auch eines, bei dem die teure Sensortechnik sich sehr schnell amortisiert. Es ist jedoch illusorisch zu glauben, man könne etwa das fröhliche Chaos vieler Großstädte oder winterliche Wetterbedingungen in den Bergen oder in Nordeuropa in absehbarer Zeit auf ähnliche Weise beherrschbar machen. Der Weg zum autonomen Fahren wird ein iterativer Weg sein und er wird noch Jahre brauchen. Vermutlich sind es gerade die vermeintlichen Umwege – etwa über Nutzfahrzeuge – die nun zum Ziel führen.

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