Vor drei Jahren hat das Berliner Mobilitätsgesetz (MobG BE) große Erwartungen für eine zügige Verkehrswende in der Hauptstadt geweckt. Auch wenn seine Vervollständigung in der vergangenen Woche gescheitert ist, fällt eine nüchterne Betrachtung der ersten drei Jahre des MobG BE überwiegend positiv aus – entgegen der sehr kritischen öffentlichen Wahrnehmung. Zur Beurteilung des MobG BE darf nicht allein der bauliche Fortschritt beim Radwegeausbau herangezogen werden. Bevor dieser umgesetzt werden kann, sind Veränderungen in anderen Handlungsfeldern notwendig: institutionelle Umstrukturierung, Personalaufbau, Planwerke sowie Beteiligung und Kommunikation.
Die zuständige Senatsverwaltung (SenUVK) hat die meisten der im MobG BE für die ersten Jahre vorgesehenen Vorhaben erfolgreich und fristgerecht umgesetzt. Es wurde das institutionelle Gefüge zur Gestaltung von Mobilität und Verkehr sinnvoll umgebaut, unter anderem durch die Einrichtung der Koordinierungsstelle Rad- und Fußverkehr. Die Personalkapazität wurde deutlich erhöht, vor allem durch die Schaffung und Besetzung von Radverkehrskoordinator*innen in den Bezirken. Beides ist notwendig, um die Verwaltung handlungsfähig für die Umsetzung der baulichen Maßnahmen des MobG BE zu machen. Bestehende Planwerke wurden erweitert, wie der Stadtentwicklungsplan Mobilität und Verkehr, und finanziell deutlich aufgestockt, wie die Erhöhung der ÖPNV-Investitionen um 167 Prozent im neuen BVG-Verkehrsvertrag zeigt.
Kritisch zu beurteilen ist, dass der für Juli 2020 vorgesehene Radverkehrsplan immer noch fehlt. Erst der Radverkehrsplan legt verbindliche Qualitätsstandards und messbare Ausbauziele für die Berliner Radinfrastruktur fest. Positiv hervorzuheben ist jedoch die erstmalige Schaffung einer landesrechtlichen Grundlage für Radschnellverbindungen im Zuge des MobG BE mit einer Planfeststellungspflicht. Sie gibt der Tochtergesellschaft GB infraVelo, in der bezirksübergreifende Maßnahmen für eine verbesserte Radverkehrsinfrastruktur gebündelt werden, die nötige Durchsetzungskraft für die Koordination und Realisierung der Radschnellverbindungen. Wie im MobG BE vorgesehen, wurde eine transparente Kommunikation und Beteiligung in neuen Gremien eingerichtet, zum Beispiel in Form des Fahrrates. Die im MobG BE jährlich vorgeschriebene Entschärfung von Unfallschwerpunkten wurde umgesetzt.
Ein Kompromisswerk mit politischer Bedeutung
Aufgrund der vielen allgemein gehaltenen Soll-Formulierungen im MobG BE leitet dieses nicht „die Verkehrswende per Gesetz“ ein. Das MobG BE ist in einem politischen Verhandlungsprozess unter Beteiligung sehr diverser Akteure entstanden. Die schwächeren Formulierungen spiegeln den Einfluss derjenigen Akteure wider, die keinen schnellen und tiefgreifenden, sondern höchstens einen schrittweisen Umbau des Berliner Verkehrssystems wollten. In diesem Sinne ist das MobG BE durch seinen Leitlinien-Charakter ein Kompromisswerk. Seine größte Bedeutung liegt nicht auf der planungsrechtlichen, sondern auf der politischen Ebene.
Mit dem MobG BE liegt ein integratives politisches Zukunftskonzept vor, um die Mobilität in Berlin gemeinwohlorientiert und klimaverträglich zu gestalten. Dass eine so klar definierte Vision gerade auch in Krisenzeiten wie der Covid-19-Pandemie die Akteure in Politik und Verwaltung handlungsfähig und resilient macht, zeigt das Beispiel der Pop-up-Radwege. Sie stoßen auf hohe Akzeptanz, steigern den Radverkehr und wurden politisch durch den ideellen Rückenwind des MobG BE ermöglicht. Für die bauliche Verstetigung der Pop-up-Radwege bildet das Gesetz darüber hinaus die planerische Grundlage.
Bezüglich der baulichen Maßnahmen verwundert es kaum, dass auch drei Jahre nach Erlass des MobG BE noch kein Kilometer Radschnellverbindung gebaut wurde. Aufgrund der Beauftragung der infraVelo mit der Planung von Radschnellverbindungen hatte sich erstmals ein neu gegründetes Unternehmen mit der Thematik der Planung von Radschnellverbindungen zu befassen, es lagen noch keine Erfahrungen vor. Darüber hinaus besteht der Planungsprozess von Verkehrsanlagen aus verschiedenen aufeinander aufbauenden Planungsschritten und erstreckt sich meist über mehrere Jahre.
Was man aus dem Berliner MobG für andere Städte lernen kann
Für die kommenden drei Jahre wird das Erfolgskriterium für das MobG BE allerdings die Umsetzung baulicher Maßnahmen beim Rad-, Fuß- und öffentlichen Verkehr sein. Dabei wird es in Berlin auch maßgeblich auf die Bezirke und eine gelungene Kooperation zwischen diesen als kommunaler Ebene und der Senatsverwaltung für Verkehr als Landesebene ankommen. Das MobG BE hat dafür trotz vieler allgemein gehaltener Regelungen gute Voraussetzungen und bisher den nötigen politischen Rückenwind geschaffen.
Für mögliche Mobilitätsgesetze in anderen Bundesländern ist zu empfehlen, dem Berliner Beispiel zu folgen und den Schwerpunkt auf den Umbau der Verkehrsinfrastrukturen zu legen. Nur mit guter und sicherer Rad- und Fußwegeinfrastruktur sowie einem hochwertigen ÖPNV-Netz kann die Verkehrswende vorankommen. Für die erste Phase der Implementierung eines Mobilitätsgesetzes ist es durchaus empfehlenswert, den Fokus darauf zu legen, die Verwaltung handlungsfähig zu machen. Gleichzeitig gilt es bei den zivilgesellschaftlichen Mobilitätsverbänden allzu große Frustration aufgrund enttäuschter Erwartungen zu vermeiden. Hier besteht sonst die Gefahr, dass die politisch Verantwortlichen einen ihrer wichtigsten Verbündeten für die Akzeptanz eines neuen Mobilitätsgesetzes verlieren.
Deshalb sollte die Kommunikationsstrategie auf ein realistisches Erwartungsmanagement abzielen. Insbesondere in Hinblick darauf, welche Regelungen landesrechtlich in einem Mobilitätsgesetz getroffen werden können und welche baulichen Fortschritte in den ersten Jahren umsetzbar sind. Ergänzend dazu kann man in den ersten Jahren mit provisorischen Maßnahmen wie den Pop-up-Radwegen arbeiten. Sie machen die Verkehrswende vor Ort erfahrbar und werden als spürbarer Fortschritt wahrgenommen.
Juristisch verbindlichere Formulierungen und bundesrechtliche Reformen
Für künftige Mobilitätsgesetze in den Ländern ist ein höherer Verbindlichkeitsgrad und die Vermeidung leitliniencharakteristischer „Soll“-Formulierungen sinnvoll. Wird in einem Ausbaugesetz die Erforderlichkeit konkreter Infrastrukturprojekte festgelegt, so ist im Zulassungsverfahren die Erforderlichkeit des beantragten Projekts nicht mehr gesondert nachzuweisen. Allein durch landesrechtliche Gesetzgebung kann die klimapolitisch dringend notwendige Verkehrswende jedoch nicht bewältigt werden. Stattdessen sind Anpassungen im rechtlichen Gefüge der Verkehrsplanung auf allen föderalen Ebenen erforderlich. Es bleibt abzuwarten, in wie weit die grundlegende Überarbeitung der Straßenverkehrsordnung oder gar der Erlass eines Bundesmobilitätsgesetzes in der kommenden Legislaturperiode realisiert werden.
Dieser Text basiert auf einem wissenschaftlichen Artikel von Sophia Becker und Anke Sterz, der heute in der Fachzeitschrift Internationales Verkehrswesen erscheint.