Standpunkte Der Nato-Drohnenwall braucht digitale Führung

1000 Drohnen im Monat – das klingt nach Tatkraft. Doch Europas Verteidigung wird nicht auf Montagebändern entschieden. Wer Tempo fordert, muss auch Systemintegration, Softwarebeherrschung und digitale Führungsfähigkeit liefern. Sonst bleibt der Drohnenwall eine politische Behauptung ohne operative Substanz.
Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen
Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.
Jetzt kostenfrei testenVon außen betrachtet ist die Ansage beeindruckend: Mehrere Nato-Staaten kündigen an, ihre Ostflanke durch einen Drohnenabwehrschirm absichern zu wollen – ein ambitionierter Zeitplan von zwölf Monaten wird dabei von Rüstungsunternehmen in den Raum gestellt. Eine süddeutsche Fabrik soll im Akkord liefern, bis zu 1000 unbemannte Fluggeräte pro Monat (Tagesspiegel Background berichtete). Doch wer die Realität verteidigungsindustrieller Projekte kennt, weiß: Solche Zahlen sagen noch nichts über die Einsatzfähigkeit – und noch weniger über die Wirksamkeit.
Drohnen sind keine isolierten Produkte. Sie sind Knotenpunkte in einem hochkomplexen Geflecht aus Sensoren, Software, Kommunikation und Entscheidungslogik. Wer glaubt, ein Drohnenschwarm sei einfach nur eine Serie fliegender Geräte, deren Wirkung sich allein durch große Stückzahlen erzielen lässt, verkennt die eigentliche Herausforderung. Der wahre Engpass liegt nicht im Material, sondern in der Architektur – technisch wie organisatorisch.
Schnell bauen, noch schneller integrieren
Die eigentliche Frage ist daher nicht, wie viele Drohnen wir bauen können, sondern wie schnell wir sie verlässlich in ein multinationales Gefechtsbild integrieren können. Und hier beginnt das Dilemma: Solange einzelne Nato-Mitglieder eigene Standards verfolgen, ihre Softwarepipelines nicht untereinander abstimmen und Sicherheitszertifizierungen national auslegen, wird jeder Versuch der Interoperabilität zur diplomatischen Sackgasse. Man kann keine gemeinsame Verteidigungsstrategie auf inkonsistentem Programmcode und inkompatiblen Datenmodellen aufbauen.
Dabei ist Interoperabilität innerhalb der Nato keine neue Forderung – aber eine, die in der Praxis oft am Flickenteppich der Zuständigkeiten scheitert. Zwar existieren gemeinsame Rahmenwerke wie die Stanags (Standardization Agreements), doch ihre Umsetzung ist lückenhaft. Viele nationale Systeme halten formal die Protokolle ein, operieren aber mit unterschiedlicher Semantik, unterschiedlichem Versionsmanagement oder schlicht unterschiedlichen Interpretationen der Anforderungen. Das führt dazu, dass Systeme nominell kompatibel sind – praktisch aber nicht miteinander sprechen können.
Gerade im Kontext von Drohnen ist das ein sicherheitskritisches Problem. Diese Systeme sind nicht nur fliegende Sensorplattformen, sondern Teil eines digital orchestrierten Lagebilds. Sie müssen live mit C4ISR-Systemen (Command, Control, Communications, Computers, Intelligence, Surveillance and Reconnaissance) kommunizieren, untereinander koordinieren, Updates empfangen, auf Bedrohungsszenarien reagieren und bei Bedarf autonom Entscheidungen weitergeben oder exekutieren. Das funktioniert jedoch nur, wenn ihre Softwarelandschaft exakt aufeinander abgestimmt ist – und zwar nicht nur im Design, sondern über den gesamten Lebenszyklus hinweg, inklusive Wartung, Cybersecurity-Patching und Versionskontrolle.
Infrastruktur ist essenziell
Was es dafür braucht, ist mehr als politische Absichtserklärungen. Es braucht eine leistungsfähige technische Infrastruktur, die Interoperabilität nicht nur als formales Ziel, sondern als operatives Prinzip durchsetzt. Gemeinsame DevOps-Pipelines, abgestimmte ALM-Prozesse (Application Lifecycle Management), digitale Zwillinge auf Systemebene und eine einheitliche Governance für Sicherheitsfreigaben. Ohne diese Basistechnologien wird jeder Drohnenwall zum Stückwerk – unabhängig davon, wie viele Einheiten monatlich vom Band laufen.
Besonders problematisch ist die verbreitete Vorstellung, man könne technische Komplexität mit politischem Druck bändigen. Wer schnelle Ergebnisse will, muss zuerst in schnelle Prozesse investieren – und das bedeutet vor allem: durchgängige Systemarchitekturen, vollständig rückverfolgbare Softwareketten und einheitliche Entwicklungsumgebungen. Die Realität sieht leider noch anders aus. In vielen Projekten fehlt es noch immer an einem funktionierenden Digital Thread, der Anforderungen, Design, Software, Wartung und operative Nutzung lückenlos verbindet.
Hinzu kommt: In einem digitalen Gefechtsraum reicht es nicht, wenn Hardware funktioniert – sie muss permanent aktualisierbar, sicher betreibbar und synchronisiert sein. Doch während die industrielle Fertigung aufrüstet, verharrt die digitale Infrastruktur vieler Nato-Staaten auf dem Stand isolierter Insellösungen. Gerade in Deutschland ist die Kluft zwischen Produktionsambition und Systemverantwortung frappierend.
Europa braucht jetzt eine gemeinsame digitale Sprache
Und selbst dort, wo die richtigen Tools im Einsatz sind – etwa modellbasierte Entwicklungsumgebungen (MBSE), Lifecycle-Management oder simulationsgetriebene Designprozesse – werden sie oft nicht konsequent genug genutzt. Zu häufig bleiben sie IT-Projekte ohne strategischen Durchgriff. Dabei wäre genau das die Voraussetzung für ein verteidigungsfähiges Europa: eine gemeinsame digitale Sprache, eine kompromisslose Versionierung jedes Updates, ein Ende der Silologik in Software und Wartung.
Schnelligkeit in der Verteidigung beginnt nicht mit Produktion, sondern mit Vertrauen in digitale Führung. Wer 1000 Drohnen pro Monat will, muss sie nicht nur bauen können, sondern wissen, wo sich jede einzelne befindet, welche Softwareversion sie nutzt, wann ihr nächstes Wartungsfenster fällig ist – und ob sie sich überhaupt gefahrlos in ein Verbundsystem einfügen lässt. Das ist keine technische Randfrage, sondern der Prüfstein jeder glaubhaften Beschleunigungsstrategie.
Deshalb ist der Drohnenwall nur dann realistisch, wenn Europa bereit ist, seine Verteidigungslogik auch digital zu denken. Fertigungskapazitäten sind wichtig – aber ohne Systemintegration sind sie kaum mehr als Kulisse. Geschwindigkeit entsteht nicht nur am Band, sondern auch in der Synchronisation. Und die beginnt mit einem politischen Entschluss: Kompromisse in der Technik führen in der Verteidigung nicht zu Vielfalt, sondern zu Verwundbarkeit.
Marc Rivière ist Strategieberater Aerospace & Defence bei dem US-Technologieunternehmen PTC mit mehr als 20 Jahren Erfahrung in der militärischen Luftfahrt, unter anderem als Programmleiter des Transportflugzeugs A400M bei der französischen Luftwaffe. Heute unterstützt er den Defence-Sektor bei der digitalen Transformation.
Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen
Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.
Jetzt kostenfrei testen