Bald
20 Jahre ist es her, dass Kalifornien Autohersteller verpflichtete,
emissionsfreie Autos anzubieten und ihnen andernfalls den Verkauf von
Verbrennern untersagte. Technologisch stemmte GM die Entwicklung und Produktion
des EV 1 in wenigen Jahren. Doch die Fahrzeuge kamen nie in den Handel, sie
wurden ausschließlich unter strengen Auflagen verleast. Parallel übten
Hersteller, Ölindustrie und US-Bundesregierung massiven Druck aus, das
sogenannte Zero Emission Vehicle (ZEV)-Mandat zu kippen.
2002 hatten sie ihr Ziel erreicht. Regisseur Chris Paine beschreibt in seinem Dokumentarfilm „Who killed the electric car?“, wie General Motors umgehend seine E-Flotte zurückzog, stilllegte und größtenteils verschrottete. Wie sähe die Welt heute aus, mehr als 0,6 Grad Erderwärmung später, wenn das ZEV-Mandat damals durchgesetzt worden wäre? Erfahrungen aus Norwegen, der Niederlande oder auch Kalifornien geben Hinweise.
- Im
ersten Halbjahr des Jahres entschieden sich über die Hälfte der Norwegerinnen
und Norweger beim Kauf eines Neuwagens für Fahrzeug mit Elektroantrieb (EV) –
auch dank bedeutender Steuervorteile. Norwegen will ab 2025 nur noch ZEV
verkaufen.
- In
den Niederlanden lag der Anteil von EV an Neufahrzeugen Anfang des Jahres bei acht
Prozent – gefördert durch Incentivierung und Infrastruktur. Die Niederlande
werden ab 2030 nur noch ZEV neu zulassen.
- Und Kalifornien? Der Bundesstaat gab sich 2002 nicht geschlagen. Der EV-Anteil bei Neufahrzeugen lag im ersten Halbjahr dieses Jahres bei knapp acht Prozent – mittels Förderung, Infrastruktur und Regulierung: Hersteller müssen einen jährlich steigenden Anteil an EV verkaufen.
Im Autoland Deutschland lag der EV-Anteil an Neuzulassungen im September hingegen bei 3,9 Prozent. Bundesweit stehen rund 16.700 Ladestationen für E-Autos zur Verfügung – weniger als in den Niederlanden. Das Berliner Start-up Ubitricity rüstet allein in London bis 2020 über 1.000 bestehende Laternen zu Ladepunkten auf. Hierzulande fand Ubitricity keine Unterstützung.
Dabei hatte sich Deutschland das Ziel gesetzt, bis 2020 zum Leitanbieter und Leitmarkt mit einer Millionen EVs zu werden. Als absehbar wurde, dass keines der Ziele erreicht würde, wurde die „Nationale Plattform Elektromobilität (NPE)“ Ende 2018 aufgelöst. Der Nachfolger „Nationale Plattform Zukunft der Mobilität“ operiert sicherheitshalber ohne messbare Ziele.
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Digitalisierung – Voraussetzung insbesondere für eine nachhaltige, integrierte, urbane Mobilität jenseits des privaten Autos. Während wir im Industrieland Deutschland seit Jahren nicht den digitalen Anschluss zu verpassen wollen, attestiert uns die EU-Kommission längst, höchstens europäisches Mittelmaß zu sein.
Waymo ist schon uneinholbar vorausgefahren
Finnland, Schweden, Niederlande und auch das 1,3-Millionen-Einwohner-Land Estland führen uns vor, was alles binnen kurzer Zeit digitalisiert werden kann, so politischer Wille und Mut zusammenfinden. Im weltweiten Vergleich liegen wir – je nach Studie – irgendwo um den 20. Platz. Seit knapp sechs Jahren hat Deutschland nun ein Ministerium, welches digitale Infrastruktur im Namen trägt: sinnvollerweise jenes, welches auch für Verkehr verantwortlich zeichnet. Ergebnisse? Fehlanzeige.
Derweil hat Waymo in puncto Automatisierung fast uneinholbare 16 Millionen Kilometer Fahrerfahrung gesammelt. Am Anfang stand die mit zwei Millionen US-Dollar dotierte Darpa-Challenge des amerikanischen Verteidigungsministeriums. Fun Fact: Den Wettbewerb hatte der Deutsche Sebastian Thrun gewonnen, welcher im Silicon Valley ein fruchtbareres Umfeld für Innovation und Fortschritt als hierzulande gefunden hatte.
Neben Ordnungspolitik und Infrastruktur stehen der Politik auch verhaltensökonomische Hebel zur Verfügung: In einer Studie haben wir gezeigt, dass Neugier und Spaß wichtige Motivatoren sind, neue Mobilitätsangebote zu nutzen – während Kosten und Zeit eher Hygienefaktoren darstellen: notwendige Bedingungen, aber nicht handlungsändernd.
Kopenhagen setzt beispielsweise auf besonders breite, gut ausgebaute und vernetzte Fahrradwege. So können sich zwei Fahrerinnen unterhalten und blockieren trotzdem nicht die gesamte Spur für Überholmanöver. Das ist nicht nur infrastrukturell, sondern auch verhaltensökonomisch sinnvoll: Wieso sollte das Gespräch mit dem Beifahrer ein Privileg für Autofahrerinnen bleiben?
Angesichts
des andernorts erfolgreichen Wandels wirkt der bundesrepublikanische Status Quo
umso betrüblicher: Bei Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung
hinken wir unserem Führungsanspruch weit hinterher. Unsere Fahrradinfrastruktur
kann sich mit den Niederlanden oder Kopenhagen nicht messen. Der ÖPNV wurde in
den letzten Jahrzehnten kaum weiterentwickelt.
Den Diesel und seine Privilegien dagegen lässt sich der Staat bis heute mehr kosten als die Förderung emissionsfreier Alternativen. Maßnahmen zur Luftreinhaltung bleiben ungenügend. Das Klimapaket feiert die Bundesregierung als Einstieg, doch ein volkswirtschaftlich ehrlicher, wirksamer Preis einer Tonne CO2 liegt nicht bei zehn Euro.
Placebo-Verkehrspolitik: beruhigend, aber wirkungslos
Eine Millionen Ladepunkten bis 2030? Eine wohlfeile Absichtserklärung ohne Plan, ohne Verbindlichkeit, ohne Folge. Schon zur Gründung der NPE 2010 war klar, dass Infrastruktur ein Schlüsselthema ist. Nun, knapp zehn Jahre später, grüßt das Murmeltier wieder.
Mobilitätspolitik in Deutschland hat Placebo-Charakter: so beruhigend wie wirkungslos. Gipfel, Runde Tische, Nationale Plattformen: Was nach größtmöglicher Einbindung aussieht, verwischt politische Verantwortung und entzieht sich parlamentarischer Kontrolle. Copenhagenize bedeutet im Englischen soviel wie Städte fahrradfreundlich zu gestalten. German Angst steht für Zögerlichkeit und Veränderungsaversion. Für eine Republik in Aspik.
Doch Fortschritt bedeutet, dem Potential von morgen Vorrang vor dem Komfort von heute einzuräumen. Ist Deutschland dazu bereit? Sollten wir in zehn Jahren den mobilitäts- (und damit unweigerlich auch wirtschafts- und umwelt-) politischen Bankrott erklären müssen, dann sollten wir ehrlich sein und uns eingestehen: Wir haben es nicht anders, wir haben die Mobilitätswende nicht gewollt.
Oder wir ernten in zehn Jahren die Früchte einer ambitionierten Ordnungspolitik im Mobilitätssektor, welche die Verantwortung für die Zukunft ernst nimmt. Und ein Dokumentarfilm wird zeigen, „How Germany revolutionized mobility – again“. Wir haben die Wahl.
Dirk O. Evenson ist Managing Partner von Evenson, einer Beratungsgesellschaft für digitale Transformation, Nachhaltigkeit und Urbanisierung. Von 2016 bis 2019 verantwortete er die Transformationsformate New Mobility World & IAA Conference im Auftrag des Autoverbands VDA.