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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Ein Perspektivwechsel ist dringend notwendig

Oliver Mietzsch, Geschäftsführer der OWL Verkehr und WestfalenTarif, und Andreas Krämer, Unternehmensberater und Forscher
Oliver Mietzsch, Geschäftsführer der OWL Verkehr und WestfalenTarif, und Andreas Krämer, Unternehmensberater und Forscher Foto: privat

Preiserhöhungen beim Deutschlandticket sollten die Ultima Ratio darstellen. Und zwar dann, wenn es nicht gelingt, etwaige noch vorhandene Kostensenkungspotenziale und Möglichkeiten der Absatzsteigerung besser zu nutzen.

von Andreas Krämer, Oliver Mietzsch

veröffentlicht am 12.07.2024

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Die bereits im Herbst letzten Jahres hitzige Diskussion zum Preis des Deutschlandtickets ist ein Jahr später wieder voll entbrannt. Ohne die massive finanzielle Unterstützung von Bund und Ländern ist das Deutschlandticket nicht machbar. Immerhin verdrängt das Ticket mit seinen derzeit 49 Euro pro Monat zahlreiche Bestandstarife im ÖPNV.

Erste Abschätzungen gehen von deutschlandweit zwischen 1,7 und 2,1 Milliarden Euro aus, die den Verkehrsunternehmen und Verkehrsverbünden in den Kassen fehlen. Auf der anderen Seite stehen die drei Milliarden Euro jährlich, die Bund und Länder im Zeitraum 2023 bis 2025 jeweils hälftig zur Finanzierung der Mindereinnahmen zugesagt haben. Aber: Die Sorge ist groß in der Branche, dass diese Mittel nicht ausreichen.

So sind seit 2019 inflationsbedingt die Kosten bei Personal und Kraftstoffen bis Ende 2023 um mindestens 16 Prozent gestiegen. Der Kostendeckungsgrad (Umsatzerlöse im Verhältnis zu den Gesamtkosten) ist von etwa 59 auf 56 Prozent gesunken, das heißt der ÖPNV deckt die eigenen Kosten gerade mal noch zur Hälfte aus den bestehenden Einnahmen. Mit der Einführung des Deutschlandtickets ist diese Schieflage noch weiter vergrößert worden.

Gleichzeitig sind wesentliche Fragen der Finanzierung offen: Der Bund hat in den letzten Tagen zwar den lange angekündigten Gesetzesentwurf vorgelegt, allerdings wurde auch angekündigt, im nächsten Jahr 350 Millionen Euro bei den Regionalisierungsmitteln einzusparen. Wenn überhaupt, dann soll die Auszahlung erst im Jahr 2026 erfolgen.

Debatte führt zu Unsicherheit und verzerrter Wahrnehmung

Es drängt sich der Eindruck auf: Am Ende bleibt den Ländern dann nur die Preiserhöhung, um die Mehrkosten zu kompensieren. Bereits letztes Jahr wurden mögliche Preiserhöhungen auf 59, 69 oder sogar 89 Euro monatlich als „alternativlos“ ins Spiel gebracht. Die Forderung massiver Preissteigerungen ist aus mehreren Aspekten heraus problematisch:

Erstens führt die medial ausgetragene „Schlammschlacht“, deren Hintergründe dem Durchschnittsbürger verborgen bleiben, zu Vertrauensverlust und Unsicherheit beim Angebot. Nur zur Erinnerung: Im letzten Jahr haben circa 20 Millionen Bundesbürger zumindest in einem Monat das Deutschlandticket besessen. Personen, die bereits mit dem Gedanken gespielt haben, sich das Ticket anzuschaffen, nehmen Abstand davon, weil ein deutlich teureres Deutschlandticket von zum Beispiel 69 Euro als nicht mehr akzeptabel angesehen wird.

Man bedenke: Das Deutschlandticket wird als monatlich kündbares Abonnement ausgegeben. Bei Anschaffung des Tickets nach dem zehnten Kalendertag des Monats ist aber die Kündigung erst zum Ende des zweiten Monats möglich (das würde dann Gesamtausgaben von mindestens 138 Euro bedeuten).

Zweitens führt die Diskussion um die Finanzierung des Deutschlandtickets durch die Fokussierung auf Kostenaspekte zu einer Wahrnehmungsverzerrung (der Nutzen des Tickets wird ausgeblendet).

Der holistische Blick auf das Deutschlandticket

Bei der intensiven, emotional aufgeladenen, aber gleichzeitig für viele Außenstehende intransparenten Diskussion, wie die Finanzlücke im Nahverkehr geschlossen werden kann, drängt sich der Eindruck auf, das Ticket wäre eine Belastung für die Volkswirtschaft. Verstärkt wird dies durch Expertenmeinungen, die eine Verlagerungswirkung vom Pkw durch das Deutschlandticket in Zweifel ziehen, obwohl die Datenlage mittlerweile das Gegenteil bestätigt. Sicherlich ist die Eindämmung des Autoverkehrs durch das Ticket noch ausbaufähig. Aber macht es Sinn, die bestehenden Effekte kleinzureden?

Dabei generiert das Deutschlandticket zum Preis von 49 Euro bereits im ersten Jahr der Markteinführung einen gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsgewinn. Um eine wohlfahrtsökonomische Analyse durchzuführen, werden die gesellschaftlichen Nutzen und Kosten einzeln monetarisiert und dann saldiert.

Hierbei zeigt sich, dass den Verkehrsunternehmen (Nah-, Bahnfern- und Busverkehr) zwar Einnahmen in Höhe von etwa 2,2 Milliarden Euro jährlich verloren gehen. Diese Kosten werden aber durch den Nutzenbeitrag des Tickets gesamtwirtschaftlich betrachtet überkompensiert, allem voran durch die Entlastung der Verbraucher (Konsumentenrente), die Vermeidung von externen Kosten des Pkw-Verkehrs und positive Impulse für Handel und Gastronomie (in Summe fast vier Milliarden Euro jährlich). Somit beträgt der Netto-Wohlfahrtsgewinn fast zwei Milliarden Euro pro Jahr.

Dabei sind gar nicht alle positiven Wirkungen monetarisiert (zum Beispiel bleiben die Aspekte soziale Teilhabe und Imagegewinn für den Nahverkehr und den Standort Deutschland außen vor), gleichzeitig sind die Berechnungen sehr konservativ angesetzt.

Preis-Absatzbeziehungen und Wirkungsmechanismus

Forderungen nach einer massiven Preiserhöhung sind daher kontraproduktiv und lassen ein tieferes Verständnis für die Wirkung des Tickets vermissen. Die Risiken einer deutlichen Preisanhebung (über zehn Prozent hinausgehend) werden aus drei Zusammenhängen heraus deutlich.

Erstens zeigen unterschiedliche Studien (dazu besteht Einigkeit), dass das Absatzpotenzial des Deutschlandtickets auch ein Jahr nach Markteinführung noch nicht ausgeschöpft ist. Wir befinden uns also weiterhin in einer Hochlaufphase. Dem etwa 18-Prozent-Anteil Ticketbesitzer in der Bevölkerung stehen laut Studie des VDV noch circa sieben Prozent Nicht-Besitzer entgegen, die einen Ticketkauf in den kommenden zwei Monaten planen. In der Hochrechnung bedeutet dies – ausgehend von einem Bestand von zwölf Millionen Deutschlandtickets – ein gesamtes Absatzpotenzial von fast 17 Millionen Stück.

Wenn es gelingt, beispielsweise den Ticketbestand um eine Million Stück zu erhöhen, ergeben sich zusätzliche Einnahmen für die Branche von rund 300 Millionen Euro, unter der Annahme, dass diese Neukunden bisher monatlich knapp 25 Euro für Tickets im Nahverkehr ausgegeben haben.

Zweitens ist zu berücksichtigen, dass etwa die Hälfte der Besitzer des Deutschlandtickets vor Mai 2023 keine Zeitkarte des ÖPNV als Abo besessen hat. Es handelt sich bisher bei diesen Kunden nicht um Stammkunden des Nahverkehrs, sondern eher um Gelegenheitskunden oder sogar „Systemeinsteiger“. Diese Kundengruppe ist aber maßgeblich für die Nachfragezuwächse in der Branche und gleichzeitig für die positiven Klima- und Umweltwirkungen des Tickets verantwortlich. Und drittens sind die aktuellen Tarifkonditionen relativ locker, das heißt den Kunden wird es nicht schwer gemacht, das Deutschlandticket zu kündigen.

Ein Problem lösen und neue schaffen

In der Kombination dieser Aspekte besteht ein erhebliches Risiko, durch überzogene Preisanpassungen ein Problem zu lösen (und zwar die Finanzsituation in der Branche zu verbessern), gleichzeitig aber andere Probleme zu verursachen (Nachfrageverlust im Nahverkehr, geringere Akzeptanz des Tickets in der Bevölkerung etc.). Mehreinnahmen, die sich aus einer Absatzsteigerung um eine Million Stück beim Deutschlandticket ergeben, erscheinen auch durch eine relativ geringe Preisanpassung von fünf bis sieben Prozent erreichbar.

Preiserhöhungen beim Deutschlandticket sollten aber die Ultima Ratio darstellen, und zwar dann, wenn es nicht gelingt, etwaige noch vorhandene Kostensenkungspotenziale und Möglichkeiten der Absatzsteigerung besser als jetzt zu nutzen (Senkung der Einstiegshürden, Anreize für Arbeitgeber zur Nutzung von Jobtickets etc.).

Vor diesem Hintergrund ist ein vielfach verwendetes Narrativ problematisch: „Entweder Geld für das Deutschlandticket ausgeben oder für den Ausbau des ÖPNV“. Beides sollte und muss möglich sein, um einen echten Schritt in Richtung Verkehrswende zu gehen. Dazu ist aber ein Perspektivwechsel dringend notwendig. Das Deutschlandticket ist nicht das Problem, sondern Teil der Lösung.

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