Dass das Fahren ohne Ticket in öffentlichen Verkehrsmitteln in Deutschland seit 1935 als Straftat verfolgt wird, ist ein historisches Relikt, das abgeschafft gehört. Der einschlägige Paragraf 265a im Strafgesetzbuch führt dazu, dass jedes Jahr 7.000 Menschen im Gefängnis landen, die kein Geld für ein Ticket hatten und auch danach ihre Geldstrafe nicht zahlen konnten. In der JVA Berlin-Plötzensee sitzen mitunter ein Drittel der Insassen nur deswegen ein, weil sie ohne Ticket Bus gefahren sind.
Ein „Schaden“ von wenigen Euro führt für Betroffene zu wochen- oder sogar monatelangen Gefängnisstrafen. Dass diese harte Bestrafung absolut ungerecht, sozialschädlich und auch ökonomisch nutzlos ist, ist inzwischen Konsens in der Wissenschaft. Zudem fordern mehr als zwei Drittel der Deutschen eine Entkriminalisierung von Fahren ohne Fahrschein, wie eine repräsentative Umfrage von Infratest dimap 2023 ermittelte.
In der Arbeit des gemeinnützigen Freiheitsfonds, den ich gegründet habe, macht sich bemerkbar, wie absurd die Gemengelage inzwischen ist: Wir kaufen Menschen aus dem Gefängnis frei, die wegen Fahren ohne Ticket einsitzen müssen. Der allergrößte Anteil der Anträge an den Fonds kommt inzwischen nicht mehr von den Betroffenen, sondern von den Gefängnissen selbst, die uns bitten, ihre Gefangenen freizukaufen, weil sie aus Sicht der Gefängnisse nicht dorthin gehören. Auf der einen Seite schafft der Staat mit einer überkommenen Regelung also ein riesiges Problem – und bittet dann eine ehrenamtliche Initiative, ihre Symptome zu bekämpfen.
Doppelbestrafung der Menschen gehört abgeschafft
Die Weichen stehen also auf Entkriminalisierung. Nur bei den Verkehrsbetrieben entgleisen die Meinungsbeiträge. So macht die Deutsche Bahn – immerhin ein Unternehmen in Staatshand – beim zuständigen Bundesjustizministerium fragwürdige Lobbyarbeit gegen die Entkriminalisierung. Und auch Oliver Wolff, Hauptgeschäftsführer des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen, wandte sich im Background am vergangenen Mittwoch gegen die Streichung des Straftatbestandes. Sie würde seiner Ansicht nach die Verkehrsunternehmen schädigen.
Mit seiner Kritik liegt Wolff falsch. Das Gegenteil ist der Fall: Von einer Entkriminalisierung des 265a StGB würden nicht nur weite Teile der Gesellschaft profitieren, sondern auch die Verkehrsbetriebe selbst. Das mag zunächst paradox klingen, immerhin haben die Verkehrsbetriebe ein Interesse daran, dass das Fahren ohne Ticket sanktioniert wird.
Doch das wird es auch bei einer Entkriminalisierung weiterhin. Denn die Sanktion des erhöhten Beförderungsentgelts – in der Regel 60 Euro – bleibt auch bei einer Streichung des Straftatbestands erhalten. Verkehrsbetriebe können also weiterhin selbst, mithilfe von Inkasso-Unternehmen oder auf zivilrechtlichem Weg ihr Geld eintreiben. Die einzige Änderung: Der Staat würde nicht noch zusätzlich seine Staatsanwälte auf die Jagd nach Menschen ohne Busticket schicken.
Die Doppelbestrafung von Menschen ohne Ticket würde also abgeschafft. Das lohnt sich sogar für Verkehrsbetriebe: Sie könnten ihre umständliche Strafantrags-Bürokratie abbauen und müssten keine aufwändigen (und regional sehr unterschiedlichen) Regelungen für Strafanträge aufstellen. Von der staatlichen Strafverfolgung haben die Verkehrsbetriebe sowieso nichts: Von den Geldstrafen, die Betroffene derzeit zusätzlich zu ihrem erhöhten Beförderungsentgelt zahlen müssen, sehen die Verkehrsbetriebe keinen Cent. Das Geld geht direkt in die Justizkasse.
Strafverfolgung kostet den Steuerzahler 120 Millionen Euro im Jahr
Eine Entkriminalisierung birgt indes zahlreiche Möglichkeiten auch für die Verkehrsbetriebe: Denn die Strafverfolgung von § 265a StGB kostet nach Untersuchungen von Nicole Bögelein und Frank Wilde happige 120 Millionen Euro (!) Steuergelder im Jahr. Würde der Straftatbestand gestrichen, wäre dieses Geld frei – und könnte zum Beispiel ins Budget für die Förderung des ÖPNV und von Sozialtickets investiert werden.
Dass Wolff eine Entkriminalisierung mit Gewalt gegen Personal der Verkehrsbetriebe in Zusammenhang bringt, ist unredlich. Natürlich müssen alle Menschen gegen Gewalt geschützt werden. Eine Entkriminalisierung von 265a ändert daran nichts. Beleidigung und Körperverletzung bleiben natürlich Straftaten.
Für die Betroffenen der Kriminalisierung hingegen würde eine Abschaffung des Straftatbestands zahlreiche Härten aus dem Leben nehmen. Den Freiheitsfonds erreichen täglich Nachrichten von Betroffenen, die durch ihren Gefängnisaufenthalt nahe kranke Verwandte nicht mehr pflegen können; die hochschwanger im Gefängnis sind; die von der Polizei aus dem Frauenhaus oder einer Psychiatrie abgeholt werden, weil sie ohne Ticket gefahren sind; die ihre Wohnung verlieren, weil sie ins Gefängnis müssen.
Streichung der Ersatzfreiheitsstrafe im Sinne der Fahrgäste – und der Verkehrsunternehmen
An ihren Fällen wird deutlich, wie sozialschädlich die jetzige Regelung ist. Wer nach dem Fahren ohne Ticket aus dem Gefängnis entlassen wird, hat danach nicht auf magische Art auf einmal Geld für Tickets. Im Gegenteil – im Regelfall werden Menschen durch eine Ersatzfreiheitsstrafe entsozialisiert. Sie verlieren Freunde, Beziehungen, möglicherweise Wohnung und Job. Und weil sie danach trotzdem noch zum Doktor oder zum Jobcenter müssen, nehmen sie wieder Bus und Bahn, vermutlich ohne Ticket.
Es sollte auch für die Verkehrsbetriebe ein wichtiges Anliegen sein, dass diesen Betroffenen sinnvoll geholfen wird – mit sozialen Angeboten und effektivem, kostengünstigen ÖPNV. Eine Entkriminalisierung sollte deswegen Hand in Hand gehen mit einer besseren Ausstattung des öffentlichen Nahverkehrs. Statt die Ausgrenzung besonders prekär lebenden Menschen mit einer Kriminalisierung weiter voranzutreiben, ist eine Entkriminalisierung auch im Sinne der Verkehrsbetriebe. Und ein klares Signal: Wir fahren zusammen.