Vom Überschwang zur Hochtechnologie: Legt man die Aufmerksamkeits-Zykluskurve nach Gartner an die Entwicklungen des autonomen Fahrens im ÖPNV an, lässt sich feststellen, dass die öffentlichen Verkehrsunternehmen ihre Hausaufgaben gemacht und somit das Tal der – vorwiegend fahrzeugseitigen – Enttäuschungen verlassen haben. Um im Gartner-Bild zu bleiben: Der Pfad der Erleuchtung wird nun fahrerlos erkundet, die Hochebene der Produktivität zeichnet sich am Horizont ab. Voraussetzung: Die Industrie nutzt die Chance.
Technik für die Menschen
Die bodenständige Branche der Verkehrsunternehmen hat sich dem Hype um das neue High-Tech gestellt und den Fokus auf die für den ÖPNV-Betrieb relevanten Sachfragen gerichtet:
- Wie lassen sich fahrerlose Betriebskonzepte in das klassische Angebot integrieren?
- Wie gestaltet sich ein fahrer- beziehungsweise Operator-loser ÖPNV-Beförderungsbetrieb?
- Wie bewältigt die Technik die vielfältigen Aufgaben des heutigen Fahrpersonals – abgesehen von der reinen Fahrzeugsteuerung?
- Wie lässt sich Akzeptanz bei den Fahrgästen für eine fahrerlose Beförderung schaffen?
- Welche neuen Berufsbilder müssen entwickelt werden?
- Wie gestaltet sich ein kooperatives Miteinander zwischen Mensch und Maschine?
Diese und weitere technischen Fragen stellen sich den öffentlichen Verkehrsunternehmen, die – für manche überraschend – an der Spitze der technischen Entwicklung mitwirken. Ein Positionspapier der Branche definiert seit kurzem die Standards, formuliert Eckpunkte für die weitere Entwicklung. Das Ziel ist eine „Stufe 4 ÖV“ – autonomes, fahrerloses Fahren in örtlich festgelegten Anwendungsfällen des öffentlichen Nahverkehrs, zum Beispiel einer Linie. Der Blick auf die vielfältige Projektlandschaft autonomer ÖPNV-Verkehrsprojekte beeindruckt.
Luxus-Technik für wenige oder moderne Mobilität für alle?
Wir müssen uns als Gesellschaft die Frage stellen, wie wir die künftige Technologie einführen möchten. Während viele Menschen bei selbstfahrenden Fahrzeugen an visionäre, windschnittige Autos eines amerikanischen E-Autobauers denken, geht es bei der Regulierung um nichts weniger als um die Frage, welche Mobilität der Zukunft wir haben wollen: autonome Autos aus dem Luxus-Segment für wenige oder ein modernes, effizientes System fahrerloser Kleinbusse bis in die Vororte – ja, bis in die Dörfer. Denn die Assistenzfunktionen für Luxus-Fahrzeuge könnten künftig, jedenfalls denkbar, privilegierten Zugang zu neuer Technologie wie dem „fahrerlosen Parkservice“ ermöglichen: Einfach vor dem Theater aussteigen, und das Fahrzeug sucht sich die Parkbucht. Der Gestaltungshebel gehört daher in die Hand der heute schon knapp 400 Landkreise und Städte als ÖPNV-Aufgabenträger, wofür diese die Regulierungskompetenz benötigen.
Rechtsrahmen für Mensch und Maschine
Erste Entwürfe einer Regulierung kursierten bereits durch die Presse. Der Text besitzt dem Vernehmen nach das Potenzial, Deutschland in den Innovations-Ranglisten wieder an die Spitze zu setzen – sofern die heimische Fahrzeugindustrie die damit verbundenen Chancen erkennt, ausschöpft und – liefert.
Das BMVI soll bei der Regulierung einen betreiberbasierten Ansatz für die Einführung autonomer Fahrzeuge favorisieren. Der Kerngedanke: Es steht ein geeigneter Betreiber zur Verfügung, der den Betrieb des Fahrzeugs überwacht, technisch beaufsichtigt – und notfalls eingreift. Dieses Modell ist sinnvoll, weil bereits sachkundige Betreiber existieren – die Unternehmen der Logistik und des öffentlichen Nahverkehrs: Letzterer besticht durch jahrzehntelange Erfahrung in der Betriebsorganisation des öffentlichen Verkehrs, mit seiner Leitstellen-Infrastruktur und seinem Personal: vom Betriebsleiter über Fahrdienst-, Leitstellen-, Service-, und Werkstattpersonal bis hin zum Betriebshofmitarbeiter. Ein erheblicher Einführungsvorteil.
Fahrerlos heißt nicht personallos
Die gelegentliche Frage nach einer Freisetzung der Busfahrer von heute stellt sich nicht. Autonomes Fahren hebt die öffentliche Mobilität auf ein neues Komfortniveau – und dafür braucht es Fachkräfte aller Art. Denn die Kunden haben auch in einem fahrerlosen Fahrzeug stets die Möglichkeit, mit einem Betreuer Kontakt aufzunehmen. Das Sicherheitsgefühl der Fahrgäste ist wichtig. Der Ansatz ist auch deswegen sachgerecht, weil auf absehbare Zeit keine Infrastruktur die Haftung für ihre Entscheidungen wird übernehmen können: Der aktive Eingriff in die Fahrzeugsteuerung einer dritten Infrastruktur – also die aktive Kontrolle durch eine intelligente Technik außerhalb des Fahrzeugs – ist auf der Schiene langfristig möglich – nicht jedoch bei Kraftfahrzeugen auf der Straße.
Die neue Technik wird vielmehr zukunftsträchtige Berufsbilder hervorbringen, deren Aus- und Weiterbildungsangebote entwickelt werden. Künftig werden Menschen und Maschinen neu miteinander interagieren. Ohne mehr Fachpersonal wird der Übergang in die neue Welt nicht gelingen. Dies bedeutet für den Gesetzgeber auch, keine überhöhten Anforderungen – wie Ingenieursnachweise – zu stellen, sondern anforderungsorientierte Vorgaben zu definieren.
Vom Reallabor zum Regelbetrieb in Stadt und Land
Kommt jetzt mit dem lang erwarteten Gesetz zum autonomen Fahren endlich die große Robo-Shuttle-Revolution? Entscheidend wird sein, dass wir die Technik in verkehrlich wirksamen Szenarien einsetzen und für die Fahrgäste nutzbar zu machen. Natürlich im urbanen Raum, aber auch flächendeckend in den Landkreisen: Wir brauchen öffentlich geförderte Reallabore mit ersten Flottenbetrieben, um dort für den Regelbetrieb Erkenntnisse zu sammeln.
Ein deutscher Exportschlager ist möglich: effektive, fahrerlose Fahrzeuge, die wesentlich weniger Verkehrsraum benötigen als die heutigen, zu tausenden in die Städte pendelnden Pkw. Das verlangt eine öffentliche Investitionsoffensive zur Fahrzeugbeschaffung, denn die kommunalen Unternehmen werden diese nicht ohne finanzielle Unterstützung stemmen können. Dass die heimische Industrie innovative Fahrzeuge bauen kann, hat sie bewiesen. Dennoch müssen die Verkehrsunternehmen derzeit bedauerlicherweise auf Shuttles unserer europäischen Nachbarn zurückgreifen. Ein kluges Gesetz könnte ein großes Stück fahrerlose Wegstrecke nach vorn bedeuten.